Offizielle Entschuldigung gefordertDie Schweiz soll das Leid von Gastarbeiter-Familien anerkennen
Sie hatten viel Arbeit, aber wenig Rechte: Saisonniers durften ihre Kinder nicht in die Schweiz mitbringen. «Das war unmenschlich», sagen Betroffene und wollen nun Gerechtigkeit.

Es sind Geschichten voller Traurigkeit. Von Müttern und Vätern, die in die Schweiz kamen, um hart zu arbeiten. Und von Kindern, die bei Verwandten zurückgelassen oder versteckt wurden. «Die damalige Politik war ein Attentat auf die Integrität unserer Familien», sagt Egidio Stigliano, Sohn italienischer Gastarbeiter. Eltern und Kinder auseinanderzureissen, sei unmenschlich. «Was wir erlitten haben, lässt sich nicht wiedergutmachen – aber das Leid muss anerkannt werden.»
Rund dreissig Betroffene und Unterstützende haben im Herbst 2021 den Verein Tesoro gegründet. Sie fordern, dass sich die Schweizer Behörden offiziell entschuldigen. Was Saisonniers erlebt haben, soll historisch untersucht und finanziell entschädigt werden.
An wen die Entschädigungen bezahlt und wie hoch sie ausfallen sollen, müsse man noch genauer diskutieren, sagt die Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji, die sich im Vorstand engagiert. Ihrer Meinung nach soll es nicht bei einem symbolischen Betrag bleiben: «Was nichts kostet, ist in diesem Land nichts wert.»
«Ein Gesetz kann zwar legal, aber moralisch verwerflich sein.»
Arbeitsmigrantinnen und -migranten seien aus wirtschaftlichen Interessen ausgebeutet worden, kritisiert sie. Sie hätten strukturelle Gewalt erfahren. Grundrechte, darunter jenes auf Ehe und Familie, seien systematisch missachtet worden. «Wir Kinder wurden von den unmenschlichen Gesetzen illegalisiert», sagt die Schriftstellerin aus Ex-Jugoslawien. Sie selbst habe vierzig Jahre gebraucht, bis sie realisiert habe, was ihr und vielen anderen angetan worden sei. «Erst aus der Distanz ist mir klar geworden, dass ein Gesetz zwar legal, aber moralisch verwerflich sein kann. Das war ein Schock.»
Tesoro wirft der offiziellen Schweiz vor, zu verdrängen, wie sie mit Saisonniers umgegangen sei. Viele seien traumatisiert. Scham- und Schuldgefühle hinderten einige bis heute daran, ihre Geschichten zu erzählen. «Es fehlt eine angemessene Sprache, um über die erlittene Gewalt zu sprechen», schreibt der Verein. Das Leiden sei noch längst nicht in seiner ganzen Dimension erfasst. Man müsse sich zudem auch mit den Profiteuren dieser Politik befassen.
Die Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg ist wissenschaftlich erst wenig erforscht. «Es fehlt an Quellen», sagt Melinda Nadj Abonji, die Geschichte studiert hat. Die Fremdenpolizei beispielsweise habe ihre Arbeit je nach Kanton unterschiedlich dokumentiert. Viele ihrer Dossiers seien inzwischen sogar vernichtet worden. Das mache eine historische Aufarbeitung entsprechend aufwendig. «Da gibt es noch viel zu tun.»
Insbesondere über die familiäre Situation von ausländischen Arbeitskräften wisse man wenig, sagt Kristina Schulz, Professorin an der Universität Neuenburg. Die Zuwanderer seien über die gesetzlichen Bestimmungen häufig nicht ausreichend informiert gewesen. Je nach Kanton seien diese mehr oder weniger streng ausgelegt worden. Politik und Behörden hätten es aus ökonomischen Gründen in Kauf genommen, dass es versteckte Kinder gebe. Sie hätten aus Ignoranz, mitunter auch aus Mitleid nicht genauer hingeschaut und Rückweisungen aus Scham nicht dokumentiert.
«Eine profunde historische Studie über die Lebensumstände von Saisonnierkindern steht noch aus», sagt die Historikerin, die sich in einem aktuellen Forschungsprojekt mit der Arbeitsmigration ab 1945 befasst. Das föderale System erschwere es, sich einen Überblick zu verschaffen. «Der Aufenthaltsstatus und damit die sozialen Situationen der eingewanderten Familien waren sehr unterschiedlich.»
«Wir dürfen unsere Wurzeln nicht vergessen.»
Samira Marti, SP-Nationalrätin BL, findet es wichtig, «dass Betroffene an die Öffentlichkeit gelangen». Es sei an der Zeit, die damalige Migrationspolitik und deren Folgen historisch aufzuarbeiten. Die Bevölkerung in der Schweiz müsse für das entstandene Leid sensibilisiert werden. «Wir müssen aufpassen, dass wir nicht wieder Rückschritte in die Vergangenheit machen», warnt die Politikerin. Auch heute stünden armutsbetroffene Migrantinnen und Migranten unter Druck. «Einzelnen droht die Ausschaffung, weil sie Sozialhilfe beziehen.»
Die Unia betont ebenfalls, dass man die Lehren «aus diesem unrühmlichen Teil der Schweizer Geschichte» ziehen müsse. «Entwicklungen, die wieder in diese Richtung gehen, sind zu verhindern», sagt Sprecher Christian Capacoel. Alle Arbeitnehmenden sollten die gleichen Rechte haben – unabhängig von ihrer Nationalität.
Dass die Politik aus der Geschichte lernt, ist den inzwischen rund vierzig Tesoro-Mitgliedern ein zentrales Anliegen. «Wir müssen von unseren Erlebnissen berichten, damit man sie nicht vergisst», sagt Vizepräsident Stigliano. Was Gastarbeiterfamilien erlebt hätten, dürfe sich nicht wiederholen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.