Interview zu linker Intoleranz«Die Schweiz ist im internationalen Vergleich stark polarisiert»
Der Politökonom Ivo Scherrer sieht keine Anzeichen dafür, dass Linke intoleranter sind als Rechte. Trotzdem fürchtet er um die Zukunft der Demokratie.
Eine internationale Studie der Mercator-Stiftung zur Polarisierung gibt gerade auch in der Schweiz zu reden: Demnach sind Personen, die sich für besonders tolerant halten, besonders intolerant gegenüber anderen politischen Meinungen. Damit würden sie massgeblich zur zunehmenden Polarisierung beitragen.
Der Politökonom Ivo Scherrer vom Thinktank Pro Futuris der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft arbeitet zum Thema politische Polarisierung. Er ordnet die Studienergebnisse für die Schweiz ein.
Herr Scherrer, wie gut ist diese Studie und wie plausibel sind die Resultate?
Die Studie stellt die Frage nach affektiver Polarisierung in zehn europäischen Ländern. Die Studie scheint mir sehr sauber gemacht. Die Frage ist einfach, wie viel wir daraus lernen können. Und da bin ich relativ skeptisch. Die politischen, kulturellen und historischen Bedingungen in der Schweiz sind doch sehr anders. Es lohnt sich, auf schweizerische Daten zu schauen, um zu verstehen, wie es um die Polarisierung in der Schweiz steht.
Vorab: Was ist affektive Polarisierung überhaupt – und warum ist sie wichtig?
Affektive Polarisierung misst, mit wie viel Sympathie oder Antipathie jemand auf andere politische Gruppen blickt. Genauer misst sie die Differenz zwischen der Sympathie, die ich meiner eigenen Gruppe entgegenbringe, und der Antipathie gegenüber anderen Gruppen.
Was ist der Unterschied zur politischen Polarisierung, von der wir sonst sprechen?
Die politische Polarisierung misst, wie stark politische Programme, Positionen, Parolen auseinanderliegen. Politische Unterschiede sind ausdrücklich erwünscht, sie sind sogar ein wesentlicher Bestandteil einer Demokratie. Wir wollen eine vielfältige Gesellschaft, die sich in vielen verschiedenen politischen Ideen und Gruppen ausdrückt – solange sich alle an demokratische Spielregeln halten.
Kann man affektive Polarisierung mit Intoleranz gleichsetzen?
Es ist nicht dasselbe, aber affektive Polarisierung kann sich in Intoleranz manifestieren. Da spielen aber noch andere Faktoren eine Rolle, insbesondere wie offen wir Menschen begegnen, die anders denken und anders leben.
Wann wird denn diese Polarisierung der Gefühle zum Problem?
Wenn sie dazu führt, dass wir uns nicht mehr mit andersdenkenden Menschen auseinandersetzen, sondern uns mit Vorurteilen begnügen. Oder wenn wir andere für komplexe gesellschaftliche Probleme verantwortlich machen. Noch schlimmer wird es, wenn wir anderen das Recht absprechen, Verhandlungspartnerinnen zu sein.
Heisst das: Man soll seine politischen Gegner lieben wie sich selbst?
Nein, wir müssen uns nicht mögen. Aber am Ende müssen wir gemeinsam politische Probleme lösen können. Und das bedingt, dass wir uns wenigstens als Gesprächspartner akzeptieren.
«Die Schweizer Stimmbevölkerung hat sich in den letzten 25 Jahren massiv den Polen zugewandt.»
Laut der Mercator-Studie sind Leute über 55 Jahre und Stadtbewohner stärker polarisiert als die Jüngeren und Landbewohner. Wird das durch andere Daten gestützt?
Für die einzelnen Länder scheinen mir die von Ihnen genannten Durchschnittswerte nicht wahnsinnig aussagekräftig zu sein. Zu unterschiedlich sind die politischen Kulturen, die gesellschaftspolitischen Gräben und historischen Erfahrungen.
Was wissen wir denn über die Polarisierung in der Schweiz?
Die Schweiz ist im internationalen Vergleich stark polarisiert – sowohl politisch als auch affektiv. Die Schweizer Stimmbevölkerung hat sich in den letzten 25 Jahren massiv den Polen zugewandt. Der Anteil der Bevölkerung, der sich zur Mitte zählt, ist regelrecht verdunstet, von 30 Prozent auf knapp 15. Und dann wissen wir auch, dass die politischen Pole – also SP und Grüne einerseits, SVP anderseits – im europäischen Vergleich sehr stark sind und ideologisch weit auseinanderliegen: Die Schweizer Linke ist im europäischen Vergleich sehr links und die Schweizer Rechte ist sehr rechts. Und zwei amerikanische Studien (hier und hier) zeigen, dass die affektive Polarisierung in der Schweiz im internationalen Vergleich ebenfalls sehr hoch ist.
Die Mercator-Studie besagt, Linke seien signifikant intoleranter als die Rechten.
Aus den Daten, die wir über die Schweiz haben, können wir keine solche Aussage ableiten. Polarisierung ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Man kann sie nicht einfach einer Gruppe in die Schuhe schieben.
«Sich auf der einzig richtigen Seite zu wähnen, ist eine Denkfalle, in der wir alle landen können.»
Man könnte argumentieren, weil Linke für sich in Anspruch nehmen, sich für das Gute einzusetzen, für Migranten, Schwache und Minderheiten, sehen sie sich eher im Recht.
Sich auf der einzig richtigen Seite zu wähnen, ist eine Denkfalle, in der wir alle landen können, Linke, Rechte und auch Leute, die sich der Mitte zuordnen. Man denkt, man habe begriffen, wie die Welt funktioniert, und kann sich nicht vorstellen, dass andere anders denken und fühlen.
Welche Daten gibt es denn zur Polarisierung in der Schweiz?
Der Generationenbarometer des Generationenhauses zeigt, dass eine Mehrheit der Bevölkerung beklagt, dass die Schweiz besonders zwischen Armen und Reichen auseinanderdrifte. Und in einer Studie des Bundesamt für Statistik wurde gefragt, wer sich durch Menschen gestört fühlt, die eine andere Hautfarbe haben, einen anderen Glauben ausüben, eine andere Sprache sprechen oder aus einem anderen Land kommen. 40 Prozent der Menschen ohne Migrationshintergrund bejahen diese Frage. Das ist ein hoher Anteil in einem Land, in dem zwei Fünftel der Menschen einen Migrationshintergrund haben. Vor allem Leute, die sich selbst als politisch rechts einstufen, sagen, sie fühlten sich gestört durch «andere», nämlich knapp 60 Prozent.
Demnach sind Rechte intoleranter.
Gegenüber Menschen, die sie als nicht zugehörig definieren, ja. Das lässt sich aber nicht auf alle Lebensbereiche verallgemeinern. Eine weitere Entwicklung macht mir ebenfalls Sorgen…
Nämlich?
In der Hochphase der Pandemie haben bis zu 40 Prozent der Bevölkerung Aussagen zugestimmt, wonach Corona künstlich geschaffen worden sei, um Macht auszuüben, Geld zu machen oder sogar um die globale Bevölkerung zu reduzieren. Das sind krasse Verschwörungserzählungen. Auch da haben wir Hinweise darauf, dass sich ihre Anhängerinnen und Anhänger eher dem rechten als dem linken Spektrum zuordnen.
Was haben Verschwörungstheorien mit der Polarisierung zu tun?
Sie widerspiegeln ein hohes Misstrauen, gegenüber dem System, Politik, Medien, Wissenschaft und oft gegenüber allen, die nicht an die Verschwörung glauben. Da haben wir ein demokratisches Problem: Verschwörungserzählungen machen es sehr schwierig, überhaupt miteinander ins Gespräch zu treten.
Sie sagen, die Polarisierung sei in der Schweiz besonders stark. Warum ist sie hierzulande aber kein so grosses Problem wie etwa in den USA oder Grossbritannien?
Politisch gesehen haben diese Länder Winner-takes-all-Systeme: Es gewinnt jeweils eine Partei, die andere verliert. Da geht es bei jeder Wahl um alles. Gerade in den USA befeuert dies im Zusammenspiel mit der hohen wirtschaftlichen Ungleichheit und der strukturellen Ungleichbehandlung von Minderheiten die affektive Polarisierung sehr stark.
Und in der Schweiz?
Dank des Schweizer Vielparteiensystems und der direkten Demokratie wissen wir: An den meisten Abstimmungssonntagen gehören wir gleichzeitig zu den Siegern und zu den Verlierern, je nach Vorlage. Unser politisches System erzwingt Machtteilung und Kompromisse. Das hilft, besonders viel politische Polarisierung zu ertragen.
«Unser ausgeprägtes gesellschaftliches Vertrauen und die Kompromisskultur sind wie Atemluft.»
Warum sehen Sie die wachsende Polarisierung dennoch als Problem an?
Sie kann dazu führen, dass wir unser hohes gesellschaftliches Vertrauen verlieren. Die Schweiz ist unter westlichen Demokratien immer noch eine Ausnahme darin, wie sehr sich Menschen, die sich nicht kennen, vertrauen. Wenn dieses Vertrauen verloren geht, kriegen wir es nur sehr schwer wieder zurück. Dann wird es sehr schwer, konstruktive Politik zu machen.
Wann kann das kippen?
Das kann ich nicht vorhersagen – aber ich bin besorgt. Unser ausgeprägtes gesellschaftliches Vertrauen und die Kompromisskultur sind wie Atemluft: Man nimmt sie im Alltag nicht wahr. Erst wenn sie weg ist, merkt man, wie wichtig sie ist.
«Wir haben klare Hinweise darauf, dass die Kompromissbereitschaft in der Politik abnimmt.»
Gibt es Anzeichen, dass uns die Luft ausgeht?
Wir haben klare Hinweise darauf, dass die Kompromissbereitschaft in der Politik abnimmt. Erstens nimmt die Geschlossenheit der Fraktionen im Parlament zu. Das heisst, es wird häufiger nach Parteiparolen abgestimmt als nach persönlicher Überzeugung. Das macht es schwieriger, Kompromisse einzugehen, in denen Abweichler aus verschiedenen Parteien für eine akzeptable Lösung sorgen.
Und zweitens?
Stark zugenommen hat der Erfolg von Referenden und Volksinitiativen, die sich gegen Mehrheitsvorlagen aus Parlament und Bundesrat richten. Historisch lag der Erfolg solcher Oppositionsvorlagen bei 20 Prozent. In den vergangenen fünf Jahren ist der Anteil auf 35 Prozent gestiegen. Das heisst: Kompromisse, die mit bestem Willen und mit grossem Aufwand geschlossen wurden, fallen am Schluss öfter an der Urne durch.
Was also tun gegen die zunehmende Polarisierung?
Bei Pro Futuris sind wir überzeugt davon, dass es mehr Dialog braucht zwischen Menschen, die verschieden denken und aus verschiedenen Lebensrealitäten kommen. Dafür muss man Räume und Spielregeln schaffen. Wir haben eine Art Blind-Date-Format entwickelt, wo man auf Menschen trifft, die eine maximal unterschiedliche politische Meinung habe. Wir wissen auch aus der Forschung, dass solche Formate ausgezeichnet funktionieren und auch tatsächlich die affektive Polarisierung reduzieren.
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