Editorial zur Polarisierung in der SchweizDie Linke hat von der Rechten gelernt, auf die Person zu zielen
Die scheinbar so souveräne und tolerante Linke muss sich vorwerfen lassen, intolerant geworden zu sein.
Da haben wir offensichtlich in ein Wespennest gestochen, als vor einer Woche unsere Journalistin Bettina Weber darüber schrieb, dass laut einer Studie der Technischen Universität Dresden «Bewohner von Grossstädten signifikant stärker polarisiert sind als Menschen, die in ländlichen Regionen leben». Weiter führt die Studie aus, dass «Linke stärker polarisiert sind als Rechte» sowie die «Polarisierung unter den Anhängern linker und ökologischer Parteien am ausgeprägtesten» sei. «Wer sich politisch als links beschreibt, ist im Schnitt deutlich stärker polarisiert als Menschen, die sich eher rechts verorten», heisst es da wörtlich. In hohen Einkommensgruppen falle die Ablehnung von Personen mit abweichenden Meinungen stärker aus als bei Menschen mit niedrigem Einkommen. Am geringsten fällt gemäss Studie die Ablehnung abweichender Meinungen bei Nichtwählenden sowie bei der Wählerschaft christdemokratischer oder konservativer Parteien aus.
So steht es in der Studie, die auf den Aussagen von 20’000 Menschen beruht. Und zugegeben, das Resultat widerspricht doch so ziemlich allen Klischees, die auch ich bisher hatte. Wenig überraschend ist hingegen die Spaltungswirkung bei den Themen «Zuwanderung», «Covid-19-Pandemie» und «Sozialleistungen» am grössten. Wer ein Problemfeld für besonders wichtig erachtet, zeigt gemäss Studie oft nur wenig Verständnis für Menschen mit abweichenden Meinungen. Auch das erscheint nachvollziehbar.
«Offenbar gibt es neuerdings auch für die Linken den Schweizer Sonderfall, einfach in Sachen Toleranz, statt wie früher in Steuerfragen.»
Interessant ist die Reaktion derer, die sich angesprochen fühlen. Politologe Claude Longchamp, ein ausgewiesener, nicht mehr ganz junger Linker, wirft Michael Hermann, der Sympathisant* der GLP ist, in den CH-Media-Zeitungen vor, dass dieser «die Studie schlecht gelesen» habe. Herrmann, der im Artikel der «SonntagsZeitung» zitiert wurde, sagte unter anderem, dass für jene, die in den Augen der Linken zur Kategorie der Bösen oder Unterdrückern zählen, die Regeln der Empathie nicht gelten würden. Nun, die teilweise geharnischten Reaktionen auf Twitter oder auch in der linken «Wochenzeitung» geben ihm und der Studie durchaus recht.
In der Bundespolitik hat das Thema auch zu Reaktionen geführt. Wenig überraschend lobt Mitte-Präsident Gerhard Pfister die Studie über den grünen Klee und sieht seine aus der CVP entstandene Partei als lebenden Beweis für die Toleranz. Demgegenüber findet die Linke, es sei total daneben, die Ergebnisse auf die Schweiz zu übertragen, denn es wurden nur Menschen in EU-Ländern befragt. Offenbar gibt es neuerdings auch für die Linken den Schweizer Sonderfall, einfach in Sachen Toleranz, statt wie früher in Steuerfragen.
Mir scheint das Ganze eine Spiegelfechterei zu sein. In der durch Twitter und andere soziale Medien aufgeheizten Diskussionskultur sind Shitstorms für halbwegs technikaffine Aktivistinnen und Aktivisten mittlerweile tägliches Brot geworden. Den politischen Gegner an irgendeinem Wort aufhängen und dann eine künstliche Empörung produzieren, das ist dermassen einfach geworden, dass die Beteiligten sich nicht davor scheuen, Absurditäten zu verbreiten, an die sie wohl selber nicht glauben. Zum Beispiel dort, wo Widerspruch zur «Hetze» wird oder ein nicht genehmer Standpunkt «faschistisch». Das gilt übrigens für linke wie rechte Wirrköpfe, wie die Pandemie zeigte. Wobei die Linke durchaus von der Rechten, bei uns vor allem von der SVP, gelernt hat, statt auf den Inhalt auf den Mann oder die Frau zu zielen. Eine gute Entwicklung ist das nicht.
*in einer ersten Version stand, Michael Hermann sei Mitglied der GLP. Mitglied ist er nicht, er ist aber Sympathisant dieser Partei.
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