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Umbaupläne in Paris
Die schönste Strasse der Welt soll wie ein Wohnzimmer aussehen

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Die «schönste Strasse der Welt» soll zu einer Art Oase werden.
Grüner und ruhiger: Auf den Computeranimationen von Philippe Chiambarettas Architekturbüro sieht die Welt der Zukunft auf den Champs-Élysées sehr entspannt aus.
Aus grau mach grün: Bäume sollen für ein besseres Klima sorgen.
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Egal wie das Wetter ist, egal ob Tag oder Nacht, hier findet man immer alles, was man sich wünscht. Bevor der Refrain dann zum dritten Mal zuschlägt – «aux Champs-Elysées» –, erzählt das Lied von Joe Dassin aus dem Jahr 1969 von Vögeln, die im Morgengrauen von der Liebe singen. Dabei begann schon in den Sechzigerjahren, was Jean-Noël Reinhardt heute so aufregt: der permanente Autolärm. In den Platanen links und rechts der Fahrbahn sitzen ein paar Tauben, vielleicht gurren sie. Schwer zu hören neben einer achtspurigen Strasse, die nicht nur viel befahren, sondern zudem aus Kopfsteinpflaster ist. «Hier ist ja ausserdem alles voller Schlaglöcher», sagt Jean-Noël Reinhardt und zeigt vorwurfsvoll auf die Fahrbahn.

Reinhardt hat an diesem Nachmittag zum Spaziergang gebeten. Wenn er redet, klingt es manchmal, als seien die Champs-Élysées eine der räudigsten Strassen Frankreichs. Gleichzeitig bauen Reinhardts Karriere und auch Reinhardts Plan für die Zukunft darauf auf, dass sie das natürlich nicht sind.

In den Neunzigerjahren war Reinhardt Manager des Virgin Megastores. Ein riesiges Musikkaufhaus in den ehemaligen Räumen einer Bank. Im Untergeschoss standen Zeitschriften und Platten im früheren Tresorraum, man lief vorbei an der dicken Panzertür, Pop als Gold. Die Adresse war standesgemäss: Champs-Élysées 52.

Weder die Musikindustrie noch die Champs-Élysées hatten damals allzu starke Komplexe. «Zu uns kamen alle», sagt Reinhardt. «Die Jazzsammler und die Kids aus der Banlieue, die das neueste Rap-Album wollten.» Seit 2013 ist der Virgin Megastore geschlossen. Die 300‘000 Menschen, die laut der Stadt Paris in normalen Jahren täglich die Strasse ablaufen, merken das vielleicht nicht mal. Aber Reinhardt reichen diese 300‘000 nicht. Er ist Vorsitzender des Comité Champs-Élysées, in dem sich 180 Geschäftsleute zusammengetan haben, um die «schönste Strasse der Welt» komplett umzubauen. Ein riesiger Park soll her. Vielleicht sogar ein Schwimmbecken, auf jeden Fall viel mehr Bäume.

«Aussergewöhnlicher Garten»

Über diese Pläne wurde Anfang des Jahres weltweit berichtet. Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris, versprach vor vier Wochen, dass man die Champs-Élysées in einen «aussergewöhnlichen Garten» verwandeln werde. Es gibt keine konkrete Zusage, wie oder wann die Idee umgesetzt werden soll. Aber doch das klare Signal aus dem Rathaus: alles neu auf den Champs-Élysées. An ihrem Anfang, am Place de la Concorde, soll für die Olympischen Spiele 2024 schon ein Park entstehen. «Ein enormer Erfolg», sagt Reinhardt. Die Strasse zieht Besucher und Interesse immer noch magnetisch an. Umso magnetischer, je weiter man von ihr weg ist.

Grün ist die Hoffnung– auch beim Arc de Triomphe: Wie kann Paris ein Mythos bleiben, ohne am Mythos zu ersticken?

Reinhardts Idee einer «Wiederverzauberung der Champs-Élysées», wie er es nennt, ist ein Symbol für die Herausforderung, vor der Paris steht. Wie ein Mythos bleiben, ohne am Mythos zu ersticken?

Die Welt liebt Paris, aber die Pariser selbst sind gestresst, hocken viel zu nah aufeinander und können die ständig steigenden Mieten kaum noch zahlen. Die Besucher bewundern die Museen, die Geschäfte, die Fassaden. Die Bewohner haben Lungenkrankheiten, weil kaum ein Baum die Luft der Stadt filtert.

Das Verhältnis der Franzosen zu den Champs-Élysées ist widersprüchlich. Einerseits kann man immer noch Zeitungsartikel lesen, in denen «schönste Strasse der Welt» so selbstverständlich für sie als Synonym genutzt wird wie Stuhl für «Sitzgelegenheit». Andererseits haben die Pariser die Champs-Élysées aus den Stadtplänen ihres Alltags gestrichen. 70 Prozent der Menschen, die auf den Champs-Élysées herumlaufen, sind Touristen. Reinhardt hat extra eine Studie in Auftrag geben lassen, die das belegt.

«Eigentlich hatte ich gar keine Lust, hier zu arbeiten. Ich bin Pariser, ich mag die Champs nicht.»

Philippe Chiambaretta, Architekt

Die richtige Richtung soll der Architekt Philippe Chiambaretta vorgeben. «Eigentlich hatte ich gar keine Lust, hier zu arbeiten. Ich bin Pariser, ich mag die Champs nicht», sagt Chiambaretta, der die Strasse nur «Champs» nennt, Felder. Ein Pariser eben. Für das Gespräch auf den Champs-Élysées kommt er aus dem Marais, dem hipperen Paris, und verschwindet danach schnell wieder Richtung Metro. Chiambaretta kam an derselben Adresse mit den Champs-Élysées in Kontakt wie der Ex-Store-Manager Reinhardt, an der Hausnummer 52.

Der Architekt Philippe Chiambaretta.

Chiambaretta baute den früheren Virgin Megastore zu einer Filiale der Galeries Lafayette um, die 2019 eröffnete. Der Laie mag denken, es handele sich bei den Häusern Nummer 52 bis 60 um ein Art-déco-Gebäude mit Dachgarten. Doch weil das hier Paris ist, stand an derselben Adresse mal ein Stadtpalais aus dem 18. Jahrhundert, dessen Innenhof Statuen von Michelangelo dekorierten und in dem Napoleon persönlich Feste feierte. Philippe Chiambaretta hat die Neugestaltung des heutigen Gebäudes übernommen, weil es sich für ihn anfühlte, «als würde er einen Kranken heilen». Sein nächster Patient sind die Champs selbst.

Zu viele Touristen, zu viel Lärm

«Hier konzentriert sich alles, was wir in modernen Städten nicht mehr aushalten», sagt Chiambaretta. Er zählt auf: zu viele Touristen, zu viel Konsum, zu viele Autos, zu viel Lärm, zu wenig Platz. Während er spricht, läuft ab und zu ein Pärchen mit Einkaufstüten vorbei, sonst ist es leer. Von den 300‘000 Menschen keine Spur. Der Apple Store hat vor seiner Fassade eine Fahne mit goldenem Apfel aufgehängt, und vor dem Eingang wartet ein Parcours aus Absperrseilen darauf, die möglichen Massen zu leiten. Doch die Corona-Pandemie müsste schon sehr spontan enden, um diese Vorsichtsmassnahmen nötig zu machen.

Mehr als 35 Millionen Menschen besuchen jedes Jahr Paris. Eigentlich. Seit März 2020 ist die Stadt mit sich allein. Und an den Champs-Élysées sieht man, was man vorher vor lauter Gewusel übersehen konnte: Das normale Leben, die Familien und der Alltag sind aus diesem Teil der Stadt verschwunden. Sind die Touristen weg, bleibt wenig übrig ausser schönen Häusern. Dabei seien die Champs-Élysées eigentlich immer ein Ort gewesen, an dem sich «die Grösse des Königreiches, die Grösse des Imperiums zeigte». Hier liege «der Ausgangspunkt des heutigen Frankreichs», sagt Chiambaretta und zieht dann rasant eine historische Linie von Ludwig XIV. bis zur Tour de France.

Was sagt es also über den Zustand der Grande Nation aus, wenn an diesem Ort heute keine neuen Statuen oder Prachtbauten errichtet, sondern einfach nur Hunderte Bäume gepflanzt werden sollen? «Dass wir in einer neuen Phase der Menschheit leben.» Chiambaretta sieht in der geplanten Parkwerdung der achtspurigen Strasse den überfälligen Abschied von der Moderne.

In der Computeranimation, die sein Architekturstudio angefertigt hat, sieht diese kommende Welt sehr entspannt aus. Niemand scheint etwas anderes vorzuhaben, als Snacks in lichtdurchfluteten Holzbuden auszusuchen (»Bio vom Sternekoch für zehn Euro», sagt Chiambaretta). Der Asphalt ist hellgrau wie ein schwedisches Designersofa (ein Beitrag zum Klimaschutz, damit kein Teer die Stadt aufheizt). Geräuschlos fahren ein paar Elektroautos hin und her (die Benzinautos der Pendler aus der Banlieue sollen künftig auf Parkplätzen am Stadtrand warten). «Es wird ein inklusiver Ort», sagt Chiambaretta. Daran würde auch die Tatsache nichts ändern, dass nirgends die Mieten so hoch sind wie hier. «Paris ist eine kleine Stadt», sagt er, man käme mit dem Fahrrad überall in einer Viertelstunde hin. Paris werde auf den Champs-Élysées «die Kunst des Spaziergangs neu erlernen».

«Was ist denn hier nicht schön?»

Der Grüne Christophe Najdovski ist seit 2014 Teil des Kabinetts der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Najdovski ist seit 2020 der «Monsieur Végétalisation», der Pflanzbeauftragte des Rathauses. In den sechs Jahren davor wurde er als «Monsieur Vélo» fast ein wenig berühmt, weil er den Bau von 320 Kilometern neuer Velowege organisierte.

Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris. 

Die Sozialistin Hidalgo macht seit inzwischen mehr als sechs Jahren genau die Politik, die sich Reinhardt und Chiambaretta für die Champs-Élysées wünschen: Sie will Paris von einer Auto- zu einer Fahrradstadt umbauen. Vor einem halben Jahr wurde Hidalgo mit dem Versprechen wiedergewählt, 170‘000 Bäume zu pflanzen. Für jedes Kind, das in ihrer zweiten Amtszeit geboren wird, ein Baum. So weit die Symbolik.

Auf den Champs-Élysées aber fährt noch Auto neben Auto. Auf einer Verkehrsinsel in der Mitte der Strasse fotografiert eine junge Frau mit langen Rastazöpfen ihren Freund. Im Hintergrund der Triumphbogen. Touristen? «Nein, wir wohnen in Paris, aber wir haben uns gedacht, dass wir zu selten Fotos von den Wahnsinnsgebäuden hier machen.» Finden Sie auch, dass die Champs-Élysées schöner werden sollen? Irritierte Rückfrage: «Was ist denn hier nicht schön?» Bald wird es dunkel, und die Strasse beginnt, sich in eine glitzernde Linie zu verwandeln. Wie eine leuchtende Girlande, die sich durch die Stadt zieht.