Analyse zu Bidens AntrittsredeDie Rede, auf die er sich sein Leben lang vorbereitet hat
Endlich durfte Joe Biden die Ansprache halten, von der er seit Jahrzehnten geträumt hat. Sie war nicht historisch aber überzeugend.
Dreimal kündigte er in ausgefeilten Reden seine Präsidentschaftskandidatur an. Und zweimal hielt er Reden, in denen er diese Kandidatur aufgeben musste, weil ihn die Demokraten nicht sonderlich geeignet fanden. Gestern aber durfte Joe Biden im dritten Anlauf endlich jene Rede halten, von der er gewiss seit Jahrzehnten geträumt hat: Am letzten Abend des virtuellen Parteitags der Demokraten nahm er die Präsidentschaftskandidatur seiner Partei an.
Eigentlich schrieb sich diese Antrittsrede von selbst: Donald Trump präsidiert über eine der grossen Katastrophen der amerikanischen Geschichte, das Land, so malte es Biden gestern Abend, ist gefangen in einem manichäischen Moment. Dort der Amtsinhaber, ein Prinz der Dunkelheit, hier Joe Biden, der gute Mensch aus Delaware.
Mitgefühl für das Land
Leidet Trump an einem Mangel an Empathie, so wollte sich sein demokratischer Rivale gestern als Heiler präsentieren, als jemand von nebenan, der die Amerikaner versteht, auf sie zugeht – und sie aus dem Tal der Tränen führen möchte, in dem sich das Land befindet (zum Bericht).
Aber kann er das? Biden hat es tatsächlich und begründet in seiner Lebensgeschichte niemals an Mitgefühl gemangelt, es wird ihm geglaubt, wenn er sich hineinversetzt in jene, denen die Corona-Pandemie einen Menschen genommen hat oder die Arbeit. Gewinnt er im November, kann Biden zeigen, ob er dieses Mitgefühl politisch umsetzen kann – und was dabei herauskommt.
Zurück zur Normalität
Unter halbwegs normalen Umständen könnte noch immer bezweifelt werden, ob Joe Biden wirklich die erste Wahl für das Amt des Präsidenten ist. Wer sich indes inmitten des Chaos und der Niedertracht von Donald Trumps Präsidentschaft nach einem Anschein amerikanischer Normalität sehnt, dem sprach der demokratische Präsidentschaftskandidat gestern aus der Seele.
Weit spannte Biden dabei sein Netz. Er hofft, nicht nur Demokraten darin zu fangen, sondern auch parteilose Wähler und so manchen Republikaner, dem es der republikanische Präsident zu bunt treibt. Deshalb steuerte der Demokrat unbeirrt die politische Mitte an – auch wenn er einige Anliegen des progresssiv-linken Flügels seiner Partei übernommen hat. Dort wird zwar gegrummelt, zu tief aber sitzt die Angst vor einem abermaligen Wahlsieg Donald Trumps, als dass sich dieses Unbehagen vor dem Wahltag entladen würde.
Eine historische Rede hat Joe Biden auf dem Parteitag nicht gehalten. Aber er sprach überzeugend und eindringlich zu den Amerikanern in einem historischen Moment.
Fehler gefunden?Jetzt melden.