Kommentar zur Umfrage bei ParlamentariernDie Polarisierung erzeugt Hass auf Politiker
Morddrohungen, Hausbesuche, Hassmails: Parlamentsmitglieder werden schweizweit im grossen Stil angefeindet. Gegen diese politische Kultur der Intoleranz braucht es eine Gegenbewegung der Vernunft.
Neulich beim Mittagessen: Eine Nationalrätin erzählt beiläufig von den «stinkenden Abfällen», die sie regelmässig anonym per Post zugestellt erhält. Von Paketen mit faulen Eiern etwa oder mit dem dreckigen Inhalt ganzer Entsorgungssäcke. Als Abfall dürfen auch die in grober Sprache verfassten Briefe und Mails gelten, die ihr, teilweise sogar namentlich unterzeichnet, komplette Unfähigkeit unterstellen und das Recht absprechen, ihre Haltung im Parlament zu vertreten.
An die Unflätigkeiten, ja den blanken Hass hat sich die Nationalrätin bedenklicherweise fast schon gewöhnt – auch wenn es sie nachdenklich stimmt, was in den Absendern dieser Botschaften gärt. Ihren Namen will sie nicht in den Medien lesen, weil sie weder als Opfer gelten noch Nachahmungstäter animieren wolle.
Die Nationalrätin ist bei weitem kein Einzelfall. Auf unsere grosse Umfrage unter Parlamentsmitgliedern aller Ebenen haben schweizweit über 2000 reagiert und legten dabei massive persönliche Angriffe offen. Über ein Viertel der Teilnehmenden berichtet von Beleidigungen und Beschimpfungen auf offener Strasse, per Mail oder sogar an der eigenen Haustür. Das reicht bis zu verbalen Morddrohungen oder Gewehrkugeln im Briefkasten.
Unsäglich ist nicht nur das unterirdische Niveau mancher Bürger, problematisch sind auch die Folgen für den Politbetrieb. Das Schweizer Milizsystem ist dringend darauf angewiesen, dass sich ausreichend Freiwillige auf allen Ebenen – von der Kleinstgemeinde bis zum Bundesparlament – engagieren. Viele Umfrageteilnehmende haben deswegen gezögert, ob sie ihre Geschichten mit der Öffentlichkeit teilen sollen. Ihre Negativbeispiele sollen schliesslich nicht abschreckend wirken.
Wer sich für unser gesellschaftliches Vorankommen einsetzt, darf nicht zum Abfallkübel für frustrierte Wutbürger werden.
Denn schon heute bekunden die Parteien und Gremien besonders in den Gemeinden grösste Mühe, ausreichend Kandidatinnen und Kandidaten für die zahlreichen Ämter zu finden. Der Aufwand für die Parlamentsarbeit ist stattlich, die Entlöhnung vielerorts bescheiden – werden dann noch die Exponiertheit und die Anfeindungen eingepreist, stimmt für viele das Verhältnis nicht mehr.
Gerade in einem Wahljahr muss das zu denken geben. Klar: Wer in die Politik einsteigt, muss mit Kritik umgehen können. Immerhin sind Politiker selber nicht um markige Worte verlegen und streiten sich besonders in Anwesenheit von Kameras und Mikrofonen gern und oft. Aber wer sich für unser gesellschaftliches Vorankommen einsetzt, darf nicht zum Abfallkübel für frustrierte Wutbürger werden – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Auch wenn er oder sie eine missliebige, da andere Haltung vertritt, was der häufigste Grund für die Angriffe ist.
Aufhorchen lassen in diesem Zusammenhang auch die Aussagen zur Polarisierung. Die Mehrheit der Befragten ist der Ansicht, diese habe in den vergangenen fünf bis zehn Jahren zugenommen. Ideologien stünden über der Sachpolitik, darunter litten Kompromisse. Man gehe nicht mehr ernsthaft auf die Argumente der anderen Seite ein.
Die Mitte-Partei wird für ihren Slogan sogar belächelt. Als wäre das Konzept «Zusammenhalt» aus der Mode gekommen.
Die Verhärtungen in den Parlamenten sind letztlich ein Abbild der Verhärtungen in der Gesellschaft, also des empörten Geschreis in den sozialen Medien, des immer gehässiger werdenden Umgangstons gegenüber Andersdenkenden. Es sind links wie rechts Anzeichen einer politischen Kultur der Intoleranz. Dass sie in manchen Fällen in Übergriffe mündet, ist eine ernst zu nehmende Eskalationsstufe. Hier braucht es dringend eine Gegenbewegung der Vernunft.
Doch es gibt keine Indizien, dass sich das absehbar ändern wird. Bei den nationalen Wahlen im Herbst dürfte es gemäss Prognosen an den Polen Veränderungen geben, die politische Mitte hingegen dürfte bestenfalls in der Summe stabil bleiben.
Mehr noch: Kräfte, die für einen nüchtern-pragmatischen Politstil stehen, gelten gemeinhin als sterbenslangweilig; die Mitte-Partei etwa wird für ihren Slogan «Zusammenhalt stärken» sogar belächelt. Als wäre das Konzept «Zusammenhalt» irgendwie aus der Mode gekommen und dem dauerempörten Zeitgeist nicht mehr angemessen. Dabei bräuchte diese polarisierte Gesellschaft jetzt genau das: den Willen, gemeinsam die grossen Fragen zu verhandeln – fernab von Dogmatik, Frust und Hass.
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