Schweizer im FokusDie neue Netflix-Serie macht aus dem Radsport ein TV-Drama
Die Doku «Tour de France: Unchained» zeigt das grösste Velorennen hautnah. Mittendrin Stefan Bissegger und Stefan Küng. Das sagen sie zur Serie.
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Halsbrecherische Abfahrten, zerschlagene Träume, Tränen der Erschöpfung und der Freude: Nach der Formel 1 und dem Riesenerfolg «Drive to Survive» nimmt sich Netflix der nächsten Sportart an. Für die Radsport-Doku «Tour de France: Unchained» haben die Macher während der letztjährigen Frankreich-Rundfahrt sieben Teams begleitet, darunter jene der Schweizer Stefan Bissegger (EF Education-Easypost) und Stefan Küng (Groupama-FDJ).
Beide haben sich «Unchained» angesehen – zumindest teilweise. Küng tut dies gemeinsam mit seiner Ehefrau. «Wir haben bisher erst drei Folgen geschaut», sagt er. Für mehr hat es vor der Tour de Suisse nicht gereicht. Mit den beiden Schweizern haben wir die neue Serie diskutiert.
Wie schlägt sich die Tour-de-France-Serie im Vergleich mit anderen Sport-Dokus von Netflix?
Der Wegbereiter «Drive to Survive», der eine weltweite Renaissance der Formel 1 eingeläutet hat, bleibt für Unchained unerreicht. Auch weil in der F1-Serie viele sehr starke Charaktere aufeinanderprallen, oftmals im Wortsinn und bei 200 Stundenkilometern. Doch mit Tempo-Nervenkitzel und Charakteren kann auch der Radsport aufwarten – darum hat die Tour-Doku mehr Spannungsmomente als etwa die Spin-offs der Formel-1-Serie zu Tennis und Golf.
Die Serie ist sehr deutlich auf noch nicht so versierte Radsport-Zuschauerinnen und -Zuschauer ausgerichtet. Genau das gefällt Stefan Küng. «Ich finde es gut gemacht, schliesslich geht es an ein breites Publikum. Da sind die kurzen Erklärsequenzen wichtig.» Er ist überzeugt, dass «Unchained» den Radsport vielen näherbringen kann, die bisher kaum Zugang dazu hatten. «Dafür nehmen wir es gerne in Kauf, zwei Filmemacher dabeizuhaben», sagt Küng.
Andererseits vereinfachten die Macher der Serie Anekdoten, die in der Realität komplexer seien, «damit es für die Story passt». Als Beispiel nennt Küng eine Sequenz, in der es um die Selektion der Fahrer der Mannschaft Quickstep geht. Glaubt man dem Drehbuch der Serie, sieht es danach aus, als hätte sich der Sportliche Leiter zwischen dem damaligen Weltmeister Julian Alaphilippe und dem von einem lebensbedrohlichen Sturz zurückkehrenden Niederländer Fabio Jakobsen entscheiden müssen. In Tat und Wahrheit ging es laut Küng aber vielmehr darum, «ob Mark Cavendish oder Jakobsen als Nummer-1-Sprinter des Teams mitfährt».
Kurzum: Für langjährige Velofans bleiben die unerwarteten, neuen Einblicke eher rar. Besser aufgehoben sind sie wohl bei der spanischen Doku über das Team Movistar («Ein unerwarteter Tag»), bei dem die Konflikte ständig schwelen. Bislang wurden davon drei Staffeln produziert.
Wie ist es, ständig von Kameras umgeben zu sein?
«Zwei Leute waren bei uns, die wir voll in unser Tourleben miteinbezogen haben», erinnert sich Stefan Küng. Damit diese nicht als Fremdkörper wirkten, trugen sie sogar die Kleider der Mannschaft. Die Integration klappte offenbar ganz gut. «Wenn man drei Wochen gemeinsam unterwegs ist, freundet man sich ein bisschen an», sagt Küng. Trotzdem habe die Mannschaft Groupama-FDJ ganz klare Regeln aufgestellt. «Das Team bestimmte, wann die Kamera laufen durfte und wann nicht.» Deshalb seien bei den Besprechungen vor den Etappen weder taktische noch sportliche Diskussionen zu sehen.
Auch beim Team von Stefan Bissegger hefteten sich die Kameraleute an die Fersen der Fahrer. Sie begleiteten die Fahrer von EF Education-Easypost sogar eine Woche ins Höhentrainingslager. Und sie «filmten fast jeden Tag von früh bis spät». «Abgesehen von jenen Tagen, an denen das Kamerateam seine Ruhetage einzog», sagt Bissegger. Zum Beispiel just an jenem Tag, als Bisseggers Mannschaft mit Magnus Cort Nielsen die zehnte Etappe gewann: «Darum war davon in der Serie keine Rede.» Das Team habe «keine Ahnung» gehabt, welche Szenen «den Cut überstehen würden».
Ist Velofahren wirklich nur Leiden?
Leiden, leiden, leiden. Wer noch nie mit dem Radsport konfrontiert war, hört in dieser Serie immer wieder vom Leiden der Fahrer: «Leiden ist der Kern des Radsports», sagt etwa Küngs Teamchef Marc Madiot. Und Radstar Wout van Aert scherzt an einer Stelle: «Zum Glück füge ich mir gerne Schmerzen zu.»
«Das hat was!», sagt Bissegger auf die Frage, ob Leiden allein sein Dasein als Radprofi definiere. «Es gibt Tage, an denen du mehr Spass hast, und an anderen weniger. Eine Bergetappe etwa bedeutet für mich immer Leiden. Das ist halt so.» Genuss existiere nur im Training. Und im Rennen? «Nur wenn du gewinnst.»
Wie erlebt Bissegger das Drama um das «Project Stefan»?
Während Küng nur kurz zu sehen ist, fokussiert eine Episode von «Unchained» zu grossen Teilen auf Stefan Bissegger: Er ist eine der ersten Figuren, die ins Zentrum gerückt werden. «Project Stefan» hiess die Mission seines Teams, welche beim Tour-Start das Maillot jaune hätte einbringen sollen.
So ist Bissegger erst scherzend als Fussballtrainer zu sehen, dann am Boden zerstört, nach einem komplett verpatzten Prolog in Kopenhagen, den er hätte gewinnen wollen. «Das war schwierig anzuschauen», sagt der Thurgauer. «Die ganze Enttäuschung kam wieder hoch.» Zugleich ist er aber auch stolz, Teil der Serie zu sein.
Sind die Sportlichen Leiter Sklaventreiber?
Die verschiedenen Episoden rücken nicht nur einzelne Fahrer in den Fokus, sondern porträtieren auch ihre Teams. «Es war schon spannend, zu sehen, dass es bei Jumbo-Visma harscher zu und her geht, derweil die Franzosen schon legerer unterwegs sind», konstatiert Bissegger.
Immer wieder im Fokus sind auch die Sportlichen Leiter der Teams. Der emotionale Julien Jurdie von AG2R erscheint in einer Folge fast schon wie ein Sklaventreiber, als er ob den entschwindenden Teamzielen die Klagen seines verletzten Leaders nicht richtig hören will. Stefan Küng sagt dazu: «In unserem Team gibt es ganz klare Protokolle, die solche Situationen regeln.» Demnach habe der Arzt das letzte Wort und nicht der Sportliche Leiter. «Wir Fahrer machen uns wohl den grössten Druck», sagt Küng. Wie die Sportlichen Leiter agieren, sei von Mannschaft zu Mannschaft verschieden – es präge aber die Stimmung im Team. Die hänge aber auch stark davon ab, welche acht Fahrer mitreisten. Das werde bei der Selektion meist mitberücksichtigt. Seien zwei Fahrer hinsichtlich ihrer Leistung sehr ähnlich, der eine aber eher ein Nörgler, nehme man für eine so lang dauernde Rundfahrt eher den Optimisten mit.
Wie steht es wirklich um die Beziehung des Siegers zu seinem Edelhelfer?
Auch das Team Jumbo-Visma um den Sieger Jonas Vingegaard liess sich von den Kameras begleiten. Ein Protagonist der Serie ist nicht nur der spätere Gewinner, sondern auch dessen Edelhelfer Wout van Aert. An den beiden Stars zeigt die Serie, vor welchen Herausforderungen ein Team steht, das mehrere Asse in seinen Reihen hat.
Nach dem Narrativ der Doku tut sich Van Aert schwer damit, sich zugunsten des designierten Leaders Vingegaard zurückzunehmen. Zusammenschnitte insinuieren, dass zwischen den beiden mindestens Spannungen herrschen. Das entspricht nicht der Wirklichkeit. In einem Onlineinterview bezeichnet Vingegaard seinen Helfer als «einen meiner guten Freunde». Deshalb wehrt sich Van Aert nach dem Erscheinen der Serie nun öffentlich. «Es ist verstörend, dass in der Serie Geschichten erzählt werden, die nicht existieren», sagt er etwa gegenüber «Sporza». Die Serie ziele auf Aufreger ab. «Man fokussiert auf Momente, in denen es schwierig ist, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Es gibt auch viele Momente, in denen wir einander gestärkt und zusammengearbeitet haben. Schade, dass diese rausgenommen worden sind.»
Ist Dominator Tadej Pogacar ein Bösewicht?
Mit Tadej Pogacar bleibt eine der sportlich wichtigsten Figuren über alle acht Folgen kaum greifbar. Der Hauptgrund: Sein Team UAE-Emirates gewährte der Netflix-Crew keinen Exklusivzugang, weshalb man den Slowenen, zwei Tour-Siege hin oder her, praktisch auf Rennbilder reduzierte. Pogacar wird als ernster und gnadenloser Kontrahent der Jumbo-Visma-Equipe dargestellt, der Schalk, der bei ihm auf und neben dem Velo stets mitschwingt, geht komplett verloren. «Er ist ein sehr fairer Athlet und, soweit ich es beurteilen kann, ein ganz feiner Typ», sagt Küng. Im Gegensatz zu anderen Champions seines Kalibers gehe er auch mit Novizen respektvoll und sportlich um.
Was ist der Übersetzer von Beruf?
«Im Hauptfeld» lautet der deutsche Titel der Serie, was inhaltlich zwar einigermassen korrekt sein mag, allerdings ein Wort ist, das niemand verwendet. Am besten umschreibt der französische Titel «Au Cœur du Peloton» (Im Herzen des Fahrerfeldes) die Serie, derweil auch die englische Variante «Unchained» (Entfesselt) übers Ziel hinausschiesst.
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