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Umweltkatastrophe im Golf von Mexiko
Die Natur hat sich noch nicht erholt

Am 20. April 2010 kam es auf der Deepwater Horizon zu einem sogenannten Blow-out, bei dem die Plattform in Brand geriet und später sank.
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Irgendetwas stimmte nicht: Wie konnte das Wasser so schnell wieder so sauber sein? Fast drei Monate lang waren Hunderte Millionen Liter Öl am Meeresgrund in den Golf von Mexiko gesprudelt und hatten sich im Umkreis von mehreren Hundert Kilometern um das Bohrloch ausgebreitet. Jetzt, Anfang August, nur drei Wochen nachdem das Leck gestopft werden konnte, war es praktisch verschwunden.

David Hollander, Meereschemiker an der University of South Florida, hatte auf der Suche nach dem Öl den DeSoto-Canyon angesteuert, eine besonders fischreiche Region nordöstlich der Unglücksstelle. «Die Ölkonzentrationen gingen sehr schnell zurück, zum Grossteil durch ölfressende Bakterien», sagt Hollander. Doch Mikroorganismen allein konnten den rapiden Rückgang nicht erklären. «Wir hatten etwas übersehen.» Die Antwort auf seine Frage lag in der Tiefsee.

«Das Bohrgestänge riss, und der Wahnsinn ging los.»

David Hollander, Meereschemiker

Wochen zuvor hatte sich die Katastrophe angebahnt, als es am 20. April 2010 etwa 60 Kilometer vor der Küste des US-Bundesstaats Louisiana zu einem sogenannten Blow-out kam. Schlamm und Gas schossen aus 1500 Meter Wassertiefe ungebremst zur Meeresoberfläche und entzündeten sich auf der Bohrstation Deepwater Horizon. Die schwimmende Plattform der Firma Transocean hatte im Auftrag des Petroleumriesen BP durch mehrere Kilometer Sediment in das Macondo-Ölfeld gebohrt.

Das untere Ende des Bohrlochs war anschliessend wieder verschlossen worden. Doch der Zement, den das ausführende Unternehmen Halliburton verwendete, hielt dem Druck der Ölquelle nicht stand.

Das austretende Gas verursachte zwei Explosionen in den Maschinenräumen der Deepwater Horizon, bei denen elf Arbeiter starben. Knapp zwei Tage später versank die in Flammen stehende Bohrplattform unter einer dicken, schwarzen Rauchwolke. «Dabei riss das Bohrgestänge, und der Wahnsinn ging los», sagt Hollander.

Rund 700’000 Tonnen Öl und Gas spie das Bohrloch in die Tiefsee: Erst nach 85 Tagen gelang es, den Ölfluss aus dem Leck in 1500 Meter Tiefe zu stoppen.

Der Untergang der Deepwater Horizon sollte den Beginn einer Ölpest markieren, die alle vorherigen in den Schatten stellte. Schätzungsweise 700’000 Tonnen Öl und Gas spie das Bohrloch in die Tiefsee. Zahlreiche Versuche, das Leck 1500 Meter unterhalb der Meeresoberfläche zu stopfen, schlugen fehl.

Erst am 15. Juli, nach 85 Tagen, gelang es BP, den Ölfluss zu stoppen. Zuvor gelang es Technikern, das Bohrgestänge direkt über dem defekten hydraulisches Ventil, das im Notfall das Bohrloch versiegeln sollte, abzutrennen und ein neues Ventil zu montieren. Als dieses am 15. Juli geschlossen wurde und dem Druck standhielt, pumpte BP schweren Schlamm in das Bohrloch und versiegelte die Ölquelle mit Zement. Am 21. September 2010 schliesslich erklärte die US-Regierung das Macondo-Bohrloch für endgültig tot.

2000 Kilometer Küstenlinie verschmutzt

In den knapp drei Monaten zuvor hatte sich das aufsteigende Öl auf einer Fläche von 150’000 Quadratkilometern verteilt. Trotz aller Versuche, die Ausbreitung einzudämmen, verschmutzte das Öl etwa 2000 Kilometer Küstenlinie.

Hunderttausende Seevögel wie Aztekenmöwen, Basstölpel und Braune Pelikane verendeten ölverschmiert. Auch etliche Meeresschildkröten und Delfine fielen dem Öl zum Opfer oder erlitten chronische Vergiftungen. Ein Drittel der US-Golfgewässer sperrten die Behörden über Monate für die Fischerei.

Zehn Jahre später hat sich der Golf von Mexiko teilweise erholt: Die Vogelbestände haben stark zugelegt, und Marschgräser spriessen hier und da wieder aus dem Boden. Das Öl sei allerdings noch immer da, sagt die Meeresforscherin Nancy Rabalais von der Louisiana State University. Unter der anhaltenden Verschmutzung leidet etwa die dezimierte Delfinpopulation. Die Tiere erkranken oft, Fehlgeburten sind häufig. Eine Erholung der Meeressäuger dürfte Generationen dauern.

Die Umweltschäden in den flachen Küstengewässern erzählen jedoch nur einen Teil des Desasters, das BP laut dem «Guardian» 65 Milliarden US-Dollar für Säuberungsarbeiten, für Kompensations- und Strafzahlungen gekostet hat: Etwa ein Drittel des Öls sowie Unmengen an Chemikalien landeten am Grund des Ozeans. Auch, weil man keine Erfahrung hatte, wie sich das Öl unter den Extrembedingungen in 1500 Meter Tiefe verhalten würde.

Steve Murawski, Meeresbiologe an der University of South Florida und seinerzeit Chefberater der US-Fischereibehörde, sieht in dem damaligen Katastrophenmanagement frappierende Parallelen zur gegenwärtigen Corona-Pandemie: «Die Situation wurde völlig unterschätzt. BP und die US-Regierung waren auf ein Tankerunglück vorbereitet, aber nicht auf einen Ölunfall in der Tiefsee. Da wurde sehr viel improvisiert.» Um die Ausbreitung des Öls einzudämmen, griff man zu Massnahmen, die man nie zuvor erprobt hatte – und die alles nur noch schlimmer machten.

Zwei Wochen nach dem Blow-out sammelte Murawskis Kollege David Hollander gut 100 Kilometer vom Bohrloch entfernt Wasserproben, vom Grund bis zur Meeresoberfläche. Das Wasser sah augenscheinlich sauber aus, doch in etwa 1000 Meter Tiefe fanden er und seine Kollegen für Rohöl typische Moleküle, darunter auch solche, die potenziell krebserregend sind.

Eine fast unsichtbare Wolke aus feinsten Öltröpfchen und wasserlöslichen Verbindungen waberte in der Tiefsee.

Der Wissenschaftler war überzeugt, dass es sich um Öl aus dem Macondo-Feld handelte, und fragte nach einer Vergleichsprobe, ein Zehntelmilliliter, um dies zu beweisen. «So wie in der Corona-Krise standen Wissenschaftler damals an vorderster Front.» BP habe die Katastrophe zu Anfang relativiert und seine Schätzungen der austretenden Ölmenge drastisch nach oben korrigieren müssen.

Hollander bekam schliesslich ein ganzes Fass Öl an sein Labor geliefert. Und siehe da, er sollte recht behalten: Eine fast unsichtbare Wolke aus feinsten Öltröpfchen und wasserlöslichen Verbindungen aus dem Macondo-Feld waberte in der Tiefsee. Ein halbes Jahr nach dem Unglück war diese noch mehr als 300 Kilometer vom Bohrloch entfernt messbar.

Fischbestände sind eingebrochen

«Die Bestände an Laternen- und Drachenfischen in der Tiefsee sind im Zuge der Ölpest massiv eingebrochen», sagt Steve Murawski. «Bis heute haben sie sich nicht erholt.» Es gebe keinen direkten Beweis, dass die Fische der toxischen Wolke zum Opfer gefallen seien, aber es sei die einzig plausible Erklärung. Auch weil die Forscher hohe Konzentrationen an Kohlenwasserstoffen in den Fischen nachweisen konnten. Unklar ist allerdings, ob das Öl allein oder erst in Kombination mit Millionen Litern Dispersionsmittel tödlich war.

Im Kampf gegen die Ölflut versprühte BP riesige Mengen des Dispersionsmittels Corexit, ein Gemisch aus Tensiden, Alkoholen und Lösungsmitteln. Auch in der Tiefsee. Eine Woche nach dem Blow-out brachte BP einen Schlauch am Leck des Bohrgestänges an und pumpte knapp drei Millionen Liter Corexit in die Eruptionsstelle. Es sollte das Öl in kleinere Tröpfchen zerteilen, die langsamer aufsteigen und die Bakterien schneller abbauen. Für BP hätte es einen positiven Nebeneffekt gegeben: Der Ölteppich an der Oberfläche wäre weniger gross gewesen, das wahre Ausmass des Schlamassels verschleiert worden – was allerdings misslang.

Das Öl verbreitete sich auf einer Fläche von 150’000 Quadratkilometern. Es verschmutzte etwa 2000 Kilometer Küstenlinie.

Ob das Mittel allerdings die erhoffte Wirkung hatte, ist fraglich. Eine Studie der Technischen Universität Hamburg zeigt, dass das Öl auch ohne Corexit viel kleinere Tröpfchen gebildet hat als von BP angenommen. Die Verantwortlichen also kippten Tausende Tonnen Chemikalien ins Meer, die vermutlich ihren Zweck weitestgehend verfehlten, aber noch monatelang im Golf zirkulierten. Die Auswirkungen des Dispersionsmittels auf die Ökologie der Tiefsee sind bislang kaum erforscht. Bekannt ist allerdings, dass der Öl-Corexit-Mix für Kaltwasserkorallen, die über Jahrhunderte wachsen, hochgradig toxisch ist.

Gleichermassen umstritten und folgenreich für die Tiefseefauna war etwas anderes. Der Gouverneur von Louisiana liess die Fluttore des Mississippi öffnen, um das Öl von der Küste wegzuspülen. Die Aktion aber wurde zu einem Fiasko: Das Süsswasser des Flusses liess salzempfindlichen Arten wie Austern massenhaft sterben. Zudem schwemmte es feines Sediment in den Golf von Mexiko – das einen Schneesturm lostrat.

Vielen Lebewesen ging unter der schmierigen Decke die Luft zum Atmen aus.

Draussen im Golf blühte das Plankton. In Gegenwart von Öl und Dispersionsmittel schütteten die gestressten Algen grosse Mengen klebrigen Schleim aus. Die Tonminerale aus den Salzmarschen agierten als Ballastmaterial und liessen ölige Algenflocken massenhaft in die Tiefe schneien. Vielen Lebewesen ging unter der schmierigen Decke die Luft zum Atmen aus.

Dem Meereschemiker Hollander und seinen Kollegen waren bereits im Mai 2010 die vielen Flocken aufgefallen, die wie frisch gefallener Schnee den Meeresboden bedeckten. Also untersuchten sie das Sediment genauer und entdeckten über zehn Zentimeter dicke Ablagerungen ölverklebter Algen und Tonpartikel. Wie sich später herausstellte, hatte der Kampf gegen das Ölinferno eine Art dreckigen Schneesturm verursacht, der das Leben am Grund des Ozeans buchstäblich erstickte. Dies war eine Erklärung für den schnellen Rückgang des Öls an der Wasseroberfläche.

Die Erholung des Ökosystems ist auch dadurch beeinträchtigt, dass der Golf unter chronischer Ölverschmutzung leidet, durch leckende Bohrlöcher oder kleinere Unfälle, die sich an den unzähligen Plattformen ereignen. Tausende Fische hat Murawskis Team gefangen, keiner war frei von Ölrückständen. Allein das sage einiges aus über den riesigen Fussabdruck im Golf von Mexiko, den die Menschheit dort hinterlässt.