Soldaten in der OstukraineDie Moral der Ukrainer ist angeschlagen
Die Verluste von Russen und Ukrainern gehen in die Zehntausende, doch der Krieg könnte sich noch Jahre hinziehen. Der Ukraine mangelt es an allem – vom Funkgerät bis zur Munition.
Es wirkt auf den ersten Blick eindrucksvoll, was der ukrainische Generalstab am Sonntag über den Stand des Kampfes gegen die russische Armee präsentierte. Seit Beginn des russischen Grossangriffes am 24. Februar habe Russland fast 5000 Panzer und Schützenpanzer verloren, Hunderte Flugzeuge, Helikopter, Artilleriegeschütze und dazu: 33’600 Soldaten.
Ein komplettes russisches Regiment – bis zu mehrere Tausend Mann –, sei gezwungen gewesen, sich von der Front in der Ostukraine zurückzuziehen, «um seine Kampffähigkeit wiederherzustellen», erklärten die Ukrainer. Und laut US-Generalstabschef Mark Milley haben die Russen «20 bis 30 Prozent ihrer Streitkräfte verloren». Diese Verluste seien gewaltig und zeigten, dass «die Ukrainer einen sehr effektiven Kampf führen», stellte General Milley fest.
Zwischen 200 und 500 tote ukrainische Soldaten
Doch auch die ukrainischen Verluste gehen mittlerweile offenbar in die Zehntausende. Präsident Wolodimir Selenski sprach schon vor Wochen von bis zu 200 Toten und 500 verwundeten Soldaten täglich. Seitdem sind die ukrainischen Verluste nochmals dramatisch angestiegen: Im Donbass gebe es jeden Tag zwischen 200 und 500 tote ukrainische Soldaten, sagte David Arachamija, Chef der Präsidentenpartei Diener des Volkes im ukrainischen Parlament und enger Vertrauter Selenskis, bei einem Besuch in Washington. Noch mehr ukrainische Kämpfer würden jeden Tag verletzt. Die Verluste seien damit in den vergangenen zwei Wochen deutlich gestiegen.
Zwar ist der Frontverlauf in der Ostukraine, zurzeit Schauplatz der heftigsten Kämpfe, seit Wochen vergleichsweise stabil. Noch haben es die russischen Streitkräfte nicht geschafft, etwa in der Region Luhansk deren Verwaltungssitz Sjewjerodonezk einzunehmen. Auch Angriffe in Richtung der weiter westlich liegenden Schlüsselstädte Slowjansk und Kramatorsk kommen kaum voran, stellt auch das Washingtoner Institut für Kriegsstudien (ISW) fest.
Doch die Kosten für die Ukrainer sind gewaltig. Dem US-Generalstabschef zufolge seien die Russen bei Waffen überlegen – und das ist wohl noch milde ausgedrückt. Der Londoner «Independent» berichtete am 9. Juni über ein Dossier westlicher Geheimdienste: Demnach seien die ukrainischen Streitkräfte bei der Artillerie im Verhältnis 20:1 und im Bereich der Munition 40:1 unterlegen.
Vor allem sei den Ukrainern die Artilleriemunition mit Reichweite von 50 bis 70 Kilometern ausgegangen, mit der sie in den ersten Kriegsmonaten russische Offensiven gestoppt haben. «Ein konventioneller Krieg kann nicht gewonnen werden, wenn deine Seite zigfach weniger Waffen hat, deine Waffen den Feind nur auf kürzere Entfernung treffen und du bedeutend weniger Munition als der Feind hast», so das Fazit. Und selbst im besten Fall vergehen noch Wochen, bis teils satellitengesteuerte britische und US-Raketenwerfersysteme in der Ukraine eintreffen, die einen spürbaren Unterschied machen könnten.
Das ukrainische Militär, das ISW und der britische Militärgeheimdienst berichten in öffentlichen Kommentaren über eine sinkende Moral russischer Soldaten. Doch auch die Ukrainer haben angesichts der materiellen Unterlegenheit und daraus resultierenden explodierenden Verlustzahlen zunehmend Probleme. Der britische Militärgeheimdienst stellte fest, dass die Ukraine möglicherweise Desertionsprobleme habe. Und auch das ist offenbar geschönt: Das Geheimdienstdossier, über das der Independent am 9. Juni berichtete, stellte fest: «Die Fälle von Desertion wachsen jede Woche.»
In sozialen Medien wie Tiktok tauchen zunehmend Berichte oder Videos unzufriedener ukrainischer Soldaten auf, die über die miserable Versorgung klagen. Am 4. Juni etwa beschwerten sich Dutzende Soldaten der 3. Kompanie des 66. Bataillons der ukrainischen Armee, sie seien ohne schwere Waffen und mit lediglich «sechs Magazinen Patronen pro Mann» an die Front geschickt worden. «Wir sind bereit, für die Ukraine zu kämpfen, aber wir können nichts gegen Panzer, Granatwerfer und Artillerie ausrichten», klagte der Kommandant.
Tote würden nicht weggebracht, ein Verwundeter sei drei Tage lang unversorgt geblieben. «Wir haben keine Funkgeräte, keine Ferngläser, keine Nachtsichtgeräte, keinerlei Kommunikationsmittel» und nun nicht einmal mehr «Munition für die Maschinengewehre».
Präsident Wolodimir Selenski besuchte am Samstag die Frontstadt Mikolajiw und die Hafenstadt Odessa. «Wir werden den Süden niemandem überlassen, wir werden alles zurückholen, was unser ist, und das Meer wird ukrainisch sein», erklärte der Präsident. Wichtigstes Offensivziel der Ukrainer ist eine Rückeroberung der Region Cherson – bisher aber ist die Armee wohl angesichts der materiellen Unterlegenheit wenig vorangekommen.
Raketenwerfer «in ein paar Wochen»
Frühestens Ende Juni werde die ukrainische Armee moderne Raketensysteme etwa vom Typ Himars bekommen, die an der Front einen spürbaren Unterschied machen könnten, sagt US-Generalstabschef Milley. Bis jetzt seien indes gerade mal 60 ukrainische Soldaten etwa im Himars-Gebrauch ausgebildet worden. Bis die Ukraine «Artillerie mit grosser Reichweite im Kampf» verwenden könne, würden noch «ein paar Wochen vergehen».
Sowohl Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wie der britische Premierminister Boris Johnson bereiteten die Öffentlichkeit am Wochenende auf einen möglicherweise jahrelangen Krieg vor. Johnson schrieb nach einem Besuch in Kiew in der Londoner «Sunday Times»: «Wir müssen uns für einen langen Krieg stählen.» Russlands isolierter Präsident Wladimir Putin denke womöglich immer noch, dass eine «totale Eroberung» der Ukraine möglich sei.
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