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Psychologie des Ärgerns
Die Kraft der Wut

Ärger und Wut sind wichtige Signale für die geistige Gesundheit: Sie richtig ausleben zu lernen, ist zentral. 
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Wut kann sich wie eine gigantische Welle vor einem Menschen aufbäumen, über ihm zusammenbrechen und ihn in ihrer tobenden Gischt mit sich spülen, bis er nicht mehr weiss, wo oben und wo unten ist. Man kann aber lernen, diese Welle zu reiten und sich ihre Kraft zunutze zu machen, sagt die Psychologin, Psychoanalytikerin und ehemalige Dozentin an der Universität Zürich Verena Kast.

Das Problem mit der Wut ist jedoch, dass sie keinen guten Ruf hat. Das war schon im Altertum so. Der Philosoph Seneca schrieb von einer Wut als kurze Geisteskrankheit. Heute wird sie zwar nicht mehr als eine psychische Krankheit gesehen, ihr Ausdruck ist jedoch weiterhin gesellschaftlich wenig erwünscht.

Aggressive Taten, die zu Verletzung und Zerstörung führen, sind von Wut abzugrenzen. Denn Wut ist kein Verhalten, sondern eine Emotion. Wut sei die intensivierte Form von Ärger, die eine unserer Grundemotionen ist, sagt Kast. «Und Ärger entsteht, wenn wir uns gekränkt, unfair behandelt oder in unserer Integrität angegriffen fühlen oder uns entwickeln wollen, aber daran gehindert werden.»

Wichtige Funktion

Wut per se ist nicht schlecht – im Gegenteil, ihr liegt eine wichtige Funktion und Kraft inne. Das Problem sei jedoch, dass viele Menschen ihre Wut nicht sinnvoll nutzen können. Denn «sie haben nicht gelernt, ihre Wut als ein berechtigtes Gefühl wahrzunehmen und richtig auszudrücken», sagt Kast. Die entscheidende Frage sei, wie wir mit unserer Wut umgehen: Auf der einen Seite gebe es Menschen, die es sich in ihrer Wut bequem machten und sich blind von der Wut der anderen anstecken liessen. Dadurch könne ein Gefühl vermeintlicher Macht entstehen. Dieses Verhalten stosse auf Ablehnung, da es wenig verändere und Angst machen könne.

«Es ist akzeptierter, Angst zu haben oder traurig zu sein, als ständig ärgerlich zu sein.»

Verena Kast, Psychologin

Auf der anderen Seite stünden jene, die ihre Wut als Trauer oder Angst wahrnehmen. Das hat laut Kast eine gesellschaftliche Ursache: «Es ist akzeptierter, Angst zu haben oder traurig zu sein, als ständig ärgerlich zu sein.» Viele Menschen haben Angst vor den Folgen ihrer Wut, denn Wut erzeugt oft Gegenwut.

Anstatt ihrem Zorn Luft zu machen, schlucken sie diesen herunter oder vergraben ihn tief in ihrem Inneren, wo es manchmal weiterbrodelt. Das kann hohe Kosten verursachen: Lange angestaute Wut kann Kommunikation behindern und zu Eskalation führen. Bei Menschen mit Depressionen und Angsterkrankungen findet man sehr häufig unterdrückte Wut, berichtet Kast.

Doch auch das zügellose und dauerhafte Ausleben der Wut ist nicht nur schlecht für das soziale Miteinander, sondern auch für die Gesundheit. Es führt unter anderem zu höherem Blutdruck und einer höheren Herzfrequenz. Der Psychiater, Psychologe und Psychotherapeut Serge Sulz sieht den gesellschaftlichen Umgang und die Erziehung von Kindern im Umgang mit Ärger und Wut sogar als psychogene Hauptursache von vielen psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. Er argumentiert: «Dem Kind wurde im Vorschulalter die Fähigkeit genommen, die Gefühle von Wut und Ärger in seinem aktiven Gefühlsrepertoire zu belassen.»

Kanal zu friedlichen Protesten

Wut kann nämlich für den Einzelnen und auch für die Gesellschaft nützlich sein. Zahlreiche Veränderungen wären ohne die treibende Kraft der Wut nicht zustande gekommen, ohne Menschen, die Ungerechtigkeit nicht mehr stumm hinnehmen wollten. Beispiele sind die friedlichen Proteste, die zur Wiedervereinigung Deutschlands geführt haben oder die «Fridays for Future»-Bewegung.

In den Botschaften der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg spürt man den Ärger über das Nichttun der Erwachsenen. 

Hat ein Mensch nicht gelernt, seine Wut richtig wahrzunehmen und auszudrücken, fehlt ihm eine wichtige Funktion. Denn Ärger und Wut sagen uns: «Moment, da ist etwas nicht in Ordnung, du musst für dich einstehen und die Situation verändern», erklärt Kast. Die Emotion Ärger hat die biologische Funktion, das Individuum zu alarmieren, falls eine Grenzüberschreitung oder Verletzung droht, und bewegt zur Gegenwehr.

Ausserdem kann Wut helfen, mit Angst umzugehen, sagt Verena Kast. «Wenn ich ängstlich bin, habe ich das Gefühl, ich kann mich nicht wehren, ich projiziere den Ärger und die Aggression nach aussen. Wenn ich merke, dass ich den Ärger auch in mir habe, kann ich für mich einstehen. Dann habe ich weniger Angst», erklärt Kast. Das Entscheidende an der Wut sei: Solange eine Person sich ärgert und dieses Gefühl zulässt, glaubt sie, dass sie etwas verändern kann.

«Sobald ich weiss, was zu verändern ist, kann ich den Ärger wieder loslassen.»

Verena Kast

Doch wie gelingt es, sich weder von einer Welle schäumender Wut mitreissen noch sie ungenutzt vorbeirollen zu lassen, sondern sie produktiv zu nutzen? «Man muss das Gefühl erst mal zulassen», sagt Kast. «Dann muss man sich fragen, warum bin ich jetzt wütend? Was ist das Ziel meiner Wut? Was muss ich verändern? Sobald ich weiss, was zu verändern ist, kann ich den Ärger wieder loslassen.» Denn Ärger und Wut waren nur dann effektiv, wenn sie bald wieder abflauen, sobald das Ärgernis aus der Welt geschafft wurde, schreibt Serge Sulz.

Wut unterschiedlich wahrgenommen

Für Kleinkinder ist es natürlich, ihrer Wut lautstark Luft zu machen. Wie wir als Erwachsene mit dem Gefühl umgehen, ist zu einem Grossteil durch unsere Erziehung geprägt und von Gesellschaft und Kultur geformt. Doch diese toleriert wütendes Verhalten nicht bei jedem Menschen in gleichem Masse: Studien zeigen beispielsweise, dass die durch Worte artikulierte Wut eines Mannes im Arbeitskontext eher belohnt, wohingegen weibliche Wut eher bestraft wird.

In einer Studie aus den USA sollten Probanden und Probandinnen das Verhalten, die Motivation und den Status von wütenden Frauen und Männern während eines Job-Interviews beurteilen. Dabei zeigte sich, dass wütenden Frauen ein niedrigerer Status, ein niedrigeres Gehalt und eine geringere Kompetenz als wütenden Männern oder nicht emotionalen Frauen zugesprochen werden. Ausserdem wird bei ihnen die Wut eher auf innere Charakteristika wie Persönlichkeit und Emotionskontrolle zurückgeführt, während bei Männern eher äussere Umstände als Auslöser gesehen werden.

In einer anderen Untersuchung wurde Testpersonen dasselbe wütende Abschlussplädoyer eines Anwalts beziehungsweise einer Anwältin gezeigt. Anschliessend sollten sie angeben, wen sie beauftragen würden. Die Probanden gaben die positiven Aspekte des Ärgers, wie Überzeugungskraft und Macht, eher als Gründe an, den männlichen Anwalt zu beauftragen. Gleichzeitig gaben sie eher die negativen Aspekte des Ärgers als Gründe an, warum sie die Anwältin nicht beauftragen würden. Die wütende Anwältin wurde unter anderem als zu schrill und unliebsam bezeichnet. Diese Studien geben Hinweise darauf, dass männliches wütendes Verhalten im Kontext von Arbeit eher akzeptiert wird und daher effektiver ist.

Wenn Wut weder blind ausgelebt noch runtergeschluckt oder umgedeutet wird, hilft sie uns, Grenzen zu verteidigen, Beziehungen aktiv zu gestalten, uns weiterzuentwickeln – ein besseres Leben zu führen.