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Parlamentswahlen in Bulgarien
Die Jungen haben genug von der korrupten Elite

Genug von der Elite: Protestzelte vor dem Justizministerium. 
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Alexandra Dimitrewa war in den Semesterferien im vergangenen Sommer auf fast jeder Demonstration in Sofia mitmarschiert. Ihre ganze «Bubble», junge, linke Studierende, sagt die 20-Jährige, habe mit Tausenden anderen beim allabendlichen Marsch durch die Innenstadt skandiert: «Rücktritt jetzt!» und «Weg mit der Mafia!» Vier lange Monate waren überall im Land Bulgarinnen und Bulgaren auf die Strasse gegangen und hatten eine neue Politik gefordert, Anstand statt Käuflichkeit.

Eine Wechselstimmung hatte das ärmste und korrupteste aller EU-Staaten ergriffen; nicht nur junge Leute, auch der Mittelstand marschierte mit, Alexandras Mutter, die eine Bäckerei betreibt, ihr Vater, gelernter Bankkaufmann. «Ich glaube», sagt Dimitrewa am Telefon, «es hat sich gelohnt.»

Das «Land der Diebe»

Bis heute fallen die Fortschrittsberichte der EU-Kommission zu Bulgarien, das seit seinem Beitritt 2007 ein Sorgenkind der EU ist, kritisch-pessimistisch aus. Die Bulgaren hatten sich abgewendet von ihrem Staat, den Mafiabanden und Oligarchen unter sich aufgeteilt haben. Schlagzeilen über das «Land der Diebe» wechseln sich in regierungskritischen Medien ab mit Berichten über das schlechte Pandemiemanagement.

Und nun? Es bewegt sich was. «Wir sind alle ein wenig erschöpft, aber optimistisch», sagt Dimitrewa, die in den Semesterferien aus dem niederländischen Maastricht, wo sie Kulturwissenschaften studiert, nach Hause geflogen ist. Sie lebt, wie viele ihrer Generation, lieber im Ausland als in einem Land mit kaputten Institutionen und gekauften Parteien – und will eigentlich auch nicht mehr auf Dauer zurück. Aber nun ist sie doch da. Nicht nur, um ihre Familie zu sehen, nicht mehr, um zu protestieren – sondern, um erneut zu wählen.

Protestparteien im Aufwind

Die Aufbruchstimmung hat sich von der Strasse wieder zurück in die Politik verlagert. Hie und da sieht man noch Zelte auf den Trottoirs vor Parlament und Regierungssitz, wo sich Demonstranten auf Dauer eingerichtet haben, bis auch wirklich eine neue Regierung steht. Protestparteien wie Da Bulgaria, die im vergangenen Sommer entstanden, legen in Umfragen stetig zu.

Ministerpräsident Bojko Borrisow, skandalumwitterter Ex-Premier von der konservativen Gerb-Partei, ist nicht mehr an der Macht. Weil er nach der ersten Parlamentswahl 2021 Anfang April keine Regierung mehr bilden konnte und auch keine andere Koalition zustande kam, hat Präsident Rumen Radew, wie es die Verfassung vorsieht, eine Übergangsregierung aus Experten ernannt. Nun soll am kommenden Sonntag erneut gewählt werden.

Musste die Macht an eine Expertenregierung abgeben: Bojko Borissow. 

Wieder wird erwartet, dass keine stabile Regierung zustande kommt, vielleicht muss eine weitere Interimsregierung noch einmal übernehmen. Alexandra findet das okay und deren Arbeit «professionell. Sie tun vieles, was sich die demokratische Opposition lange gewünscht hat.» Tatsächlich, bestätigt Politikexpertin Wessela Tschernewa vom European Council on Foreign Relations, einem EU-übergreifenden Thinktank, seien viele Bulgaren hochzufrieden mit der Arbeit der Übergangsregierung, immerhin schon der achten seit der Wende. Denn die versuche zu tun, was eigentlich die letzten Regierungen hätten tun sollen: ein verrottetes System zu reparieren, Korruption zu bekämpfen.

Dafür hat das Team unter dem Verteidigungsexperten Stefan Janew unerwartete Unterstützung aus den USA und von Präsident Joe Biden bekommen: Das US-Finanzministerium hat Anfang Juni im Rahmen des Magnitski-Gesetzes zur Bekämpfung von Menschenrechtsverletzungen drastische Sanktionen gegen bulgarische Oligarchen und Unternehmen eingeleitet. Drei Oligarchen mit mehr als 60 Firmen, die Stimmen bei Wahlen gekauft, Politiker mit hohen Monatsgehältern finanziert und ganze Industriezweige mit ihren Schmiergeldern manipuliert haben sollen, stehen nun auf einer Sanktionsliste der Amerikaner.

Die bulgarische Übergangsregierung nutzte das Momentum und erstellte selbst eine Liste. Diese Leute, erläutert Tschernewa, hätten nun keinen Zugang mehr zu öffentlichen Geldern, mehr noch, sie könnten in der bulgarischen Wirtschaft nicht mehr frei operieren.

Borissow wird angefeindet

Aber nun stehen wieder Wahlen an, und alles kann sich ändern. An einen Rückfall in die Zeit von Bojko Borissow, der das Land knapp zehn Jahre lang regierte, glaubt kaum jemand mehr. Filmaufnahmen von einem Wahlkampfauftritt in Plowdiw zeigen, wie der bullige Politiker durch die Innenstadt eilt, umringt von Bodyguards, verfolgt von aufgebrachten Bürgern, die «Goldbarren, Goldbarren!» brüllen – ein Hinweis darauf, dass seit einem Jahr Fotos aus Borissows Schlafzimmer mit Goldbarren, Geldbündel und Waffen kursieren.

Immer neue Skandale werden über Borissow bekannt, die, wie das Onlinemagazin «Politico» schreibt, «nur den Ärger weiter schüren, dass eine oktopusartige Elite sich wie eine Verbrecherbande benommen und ihre Macht mithilfe von Sicherheitsdiensten, Medien und Justiz zementiert hat». So sollen Dutzende Oppositionspolitiker monatelang abgehört worden sein. Immerhin könne man diese Dinge jetzt nicht mehr so leicht unter den Teppich kehren, zitiert «Politico» den Osteuropaexperten und Fellow am Atlantic Council, Dimitar Betschew. «Denn die Übergangsregierung thematisiert all das auch.»

Ein politisierender Komiker

Umfragen zufolge könnte bei den Wahlen am 11. Juli der Mann besonders gut abschneiden, der hinter Borissows Gerb-Partei im April überraschend am zweitbesten abgeschnitten hat: der Komiker und Sänger Slawi Trifonow. Seine Partei mit dem kuriosen Namen «Es gibt so ein Volk» liegt jetzt praktisch gleichauf mit Gerb, die kleineren, linksliberalen Oppositionsparteien schwanken zwischen 5 und 15 Prozent.

Trifonow hat kaum Wahlkampf gemacht und angekündigt, er selbst wolle in der Politik nach der Wahl keine grosse Rolle spielen. Aber er ist prominent und bezeichnet sich als Mann des Wandels. Alexandra Dimitrewa mag weder seinen «kitschigen Folk-Pop» noch seinen Wahlkampf, in dem ihr klare Aussagen fehlen. Sie wird eine der neuen, kleinen Oppositionsparteien wählen, wie ihre Eltern auch. Ihre grösste Angst dieses Mal: «Es sind Sommerferien. Viele meiner Freunde sind am Meer. Hoffentlich trägt der Wind des Wechsels die Aufbruchstimmung bis dorthin.»