Angst vor saudischer Fussball-RevolutionDie Heuchelei der reichen Engländer
Jeden Tag wechselt ein Star nach Saudiarabien. Ausgerechnet in der Premier League mit ihren von Milliardären und Staaten gestützten Clubs ist der Schrecken gross.
Sie sind in Aufruhr. Sie haben Angst. Sie sorgen sich um ihre geliebte Premier League.
Täglich wechselt gerade ein Spieler aus dieser nach Saudiarabien. Der Abgang N’Golo Kantés mag zwar wehtun, aber der französische Mittelfeldmotor Chelseas ist schon über dreissig und verletzungsanfällig und so nur einer dieser Stars wie Cristiano Ronaldo und Karim Benzema, die sich ihre Frühpension vergolden lassen. Alles halb so schlimm.
Dass Chelsea gerade die halbe Mannschaft nach Saudiarabien veräussern will, ist ebenfalls rasch erklärt. Nach einer irren Transferoffensive müssen die Londoner versuchen, das Budget annähernd auszugleichen und so die Regeln der Premier League und der Uefa einzuhalten.
Rúben Neves’ Transfer für 55 Millionen Euro zu al-Hilal sorgt da schon eher für Stirnrunzeln. Der Captain Wolverhamptons ist 26 und auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Aber auch dieses Geschäft lässt sich verkraften: Die Wolves, Partnerclub von GC, sind Mittelmass. Als Spieler eines solchen Vereins kann man schon mal die Lust verspüren, in die Wüste aufzubrechen.
Experten fordern schnelle Massnahmen
Jetzt aber schrillen die Alarmglocken. Seit neuestem heisst es, Bernardo Silva erwäge sehr ernsthaft, Manchester City zu verlassen. Der Portugiese ist nicht irgendwer, der 28-Jährige gehört im weltbesten Team zu den besten Spielern. Wenn schon so einer überlegt, sich für einen Wechsel ins Königreich auf der Arabischen Halbinsel von der Premier League abzuwenden, dann kündigt das eine Revolution an.
Aufgeschreckt fordert Gary Neville, einer der meistbeachteten Experten auf der Insel, ein Embargo für Transfers nach Saudiarabien. Und Jamie Carragher, Expertenkollege Nevilles, twittert, das Sportswashing müsse gestoppt werden. Mit Ausrufezeichen. Sofort.
Heuchlerischer geht es kaum.
Bisher waren es vor allem die englischen Clubs, gestützt von Milliardären und Staaten, die wie Weisse Haie durch den Talentpool jagten und die beste Beute machten. Chelsea gab in den letzten zwei Transferperioden mehr aus als sämtliche Vereine aus Spanien, Deutschland, Italien und Frankreich zusammen. Manchester City hat nur deshalb gerade die Champions League gewonnen, weil es in Abu Dhabi eine unerschöpfliche Geldquelle hat. Und Newcastle United gehört seit 2021 zu 80 Prozent dem saudischen Public Investment Fund (PIF), dem Staatsfond, der übrigens auch Anleger bei Clearlake Capital ist, der Investmentgesellschaft, der Teile des FC Chelsea gehören.
Zu all dem war von Neville und Co. bisher wenig bis nichts zu hören.
«Ich glaube, die Saudis begehen einen Fehler. Sie sollten in Akademien investieren, Trainer holen und eigene Spieler ausbilden.»
Saudiarabien ist das bestimmende Thema dieser Transferperiode. Was mit dem Wechsel Ronaldos im Winter begann, hat sich zum Trend entwickelt. Auch wenn sich Lionel Messi gegen einen Wechsel ins Königreich entschied und künftig in Miami spielt. Allerdings nicht aus moralischen Gründen, die angebracht wären bei einem Land mit einer langen Liste von Menschenrechtsverletzungen, sondern weil er auch in den USA ganz respektabel verdienen wird. Mit Millionen vergüteter Botschafter Saudiarabiens bleibt der argentinische Weltmeister dennoch.
Kürzlich wurde Uefa-Präsident Aleksander Ceferin auf die saudische Offensive angesprochen. Der Slowene meinte, die Europäer hätten keinen Grund zur Sorge. «Ich glaube, die Saudis begehen einen Fehler. Sie sollten in Akademien investieren, Trainer holen und eigene Spieler ausbilden.» Ceferin zog den Vergleich zu den chinesischen Clubs, die vor ein paar Jahren mit Geld um sich geworfen, einige prominente Spieler angelockt und kurzzeitig Angst vor dem Bedeutungsverlust ausgelöst hatten. Der Uefa-Präsident sagte auch: «Die Spieler wollen die besten Wettbewerbe gewinnen. Und die besten Wettbewerbe gibt es in Europa.»
Als Veranstalter der Champions League musste er das sagen. Aber es gibt ja tatsächlich gute Gründe, es wie Ceferin zu sehen. Die Infrastruktur lässt sich aus dem Boden stampfen, Spieler können mit viel Geld ebenfalls von einem Transfer überzeugt werden. Tradition und Prestige lassen sich jedoch nicht einfach kaufen.
Bei dieser Sichtweise wird davon ausgegangen, dass es sich bei der saudischen Offensive um eine Blase handelt, die irgendwann platzt. Keinen Spieler zieht es mehr nach China; und die chinesischen Investoren, die europäische Clubs kauften, wurden später entweder von der Regierung zurückgepfiffen, oder ihnen fehlt es grundsätzlich am Geld, den Markt aufzumischen. Wolverhampton-Besitzer Guo Guangchang soll der Verkauf von Neves gerade recht kommen. Ein Transfer als Sinnbild für die veränderten Stärkeverhältnisse: Was China mal war, ist nun eben Saudiarabien.
Kommt die Super League doch noch?
Aber es gibt ein zweites Szenario, nämlich, dass diese Offensive nur der Anfang von etwas Grösserem ist. Dass mehr und mehr Spieler nach Saudiarabien wechseln, bis die Liga so attraktiv ist, dass nicht nur die astronomischen Gehälter verlockend sind. Dass irgendwann wieder Pläne für eine Super League auf den Tisch kommen, dann vielleicht sogar mit Teams von der Arabischen Halbinsel und anderen Teilen dieser Welt.
Eine Utopie? Womöglich, aber vor kurzem galt auch als ausgeschlossen, dass sich die amerikanische Golfliga PGA, die wichtigste der Welt, mit den Saudis zusammentut. Diese wurden verteufelt, als sie das Konkurrenzprodukt LIV-Tour schufen und ihr Stars mit Hunderten von Millionen ausspannten. Die PGA-Verantwortlichen schwangen die Moralkeule, nicht nur, weil 9/11-Drahtzieher Osama bin Laden und einige der Attentäter aus Saudiarabien stammten. Klammheimlich setzten sie sich dann trotzdem mit den Saudis an den Tisch und machten einen Deal. Die PGA und die vom PIF geschaffene LIV-Tour fusionieren.
Geld regiert. So dominiert die Premier League. Nun herrscht plötzlich Angst vor Machtverlust, ein neues Gefühl.
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