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Küstenstadt schwer getroffen
«Die halbe Innenstadt ist weg»

Die Zerstörung in Iskenderun ist immens: Rettungskräfte und Bewohner in den Trümmern der türkischen Hafenstadt.
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Ein paar Sätze nur braucht er. Die reichen, damit man versteht, was gerade in der Türkei geschieht. «Gestern Nacht haben wir Wache gehalten», sagt Yosef Simsek, den man telefonisch in Iskenderun erreicht, einer Küstenstadt in der südtürkischen Provinz Hatay. «Wir haben in einem Blecheimer ein Feuer gemacht und uns Geschichten erzählt, damit wir wach bleiben.» Falls die Erde noch mal beben sollte.

«Es ist wie in einem Kriegsgebiet», sagt Simsek. «Die halbe Innenstadt ist weg. Der Himmel ist schwarz von dem Brand am Hafen. Ein paar Strassen weiter von mir sind die Häuser eingestürzt, angeblich liegen dort Körperteile herum.» Angeblich? «Ich bin dort noch nicht hin.»

Fast wie ein Fremder in der eigenen Stadt

Ein Mensch, der sich in einer Katastrophe wiederfand. Unsicher, wohin er gehen kann und wohin besser nicht. Fast wie ein Fremder in der eigenen Stadt, in der er sein halbes Leben verbracht hat. Frühmorgens am Montag, als die Erde aufgehört hatte zu beben, als Simsek barfuss aus seinem Haus gestürmt war, da lief er zum Haus seiner Mutter. Er konnte sie nicht erreichen, die Handynetze waren tot. Als er seine Mutter schliesslich fand, in ihrer Wohnung im vierten Stock, sprach sie das islamische Glaubensbekenntnis. Sie dachte, sie würde sterben.

Es ist nur ein einzelnes Gespräch, mit jemandem, den es noch nicht mal am schlimmsten getroffen hat. Aber schon die paar Eindrücke, die Yosef Simsek vermittelt, zeigen, was für ein Trauma die Erdbeben hinterlassen werden. Bei denen, die es selbst erlebt haben – aber nicht nur: Diese Bilder werden die ganze Türkei noch lange verfolgen.

Läge das Erdbebengebiet in Mitteleuropa, wäre alles zwischen München und Genf betroffen. Das ist die Dimension. Und die Türkinnen und Türken sehen nun ständig Drohnenbilder aus Städten, in denen kaum noch ein Haus steht. TV-Aufnahmen von den letzten Rettungsversuchen, wenn irgendwo unter den Trümmern noch eine Stimme zu vernehmen ist. Am dritten Tag nach den Beben.

Nicht mehr lange, dann werden die Retter nur noch Tote bergen. Die Zahl der Todesopfer verdoppelte sich innerhalb eines Tages noch einmal, am Mittwochvormittag lag sie allein in der Türkei bei 7100. Die Schätzung für beide Länder, Türkei und Syrien, näherte sich der Marke von 10'000.

Die Opposition wirft Erdogan vor, Einnahmen aus der Erdbebensteuer zweckentfremdet zu haben

Mehr und mehr kommt zu Schock und Trauer nun der Zorn. «Devlet nerede?», fragen die Menschen: Wo ist der Staat? Der Chef der grössten Oppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroglu, wirft Präsident Recep Tayyip Erdogan vor, er habe das Land nicht genug auf ein solches Beben vorbereitet. Erdogan habe die Einnahmen aus der Erdbebensteuer zweckentfremdet, heisst es. Damit wird die Opposition bald in den beginnenden Wahlkampf ziehen: Erdogan sei schuld daran, dass die Erdbeben so vielen Menschen das Leben gekostet haben.

Kılıçdaroglu hatte sich am Mittwochmorgen schon aus dem Katastrophengebiet gemeldet. Damit kam er Erdogan zuvor, der erst am Mittag in der schwer getroffenen Stadt Kahramanmaras eintraf. Er besucht dort eine Zeltstadt für die Erdbebenopfer, später will er noch in die Region Hatay weiterreisen. Also dorthin, wo Yosef Simsek lebt. Wo er nun ausharrt, ratlos, wie es weitergehen soll.

«Gar nichts funktioniert hier», erzählt Simsek, die Banken seien geschlossen oder eingestürzt, kein Wasser komme aus der Leitung, der Strom funktioniere erst seit Kurzem wieder. Er habe daran gedacht, die Stadt zu verlassen, aber die Buslinien seien nicht in Betrieb. «Und wenn ich nicht mehr hier wäre», sagt Simsek, «was würde dann aus meinem Haus? Solche Gedanken machen wir uns jetzt ­- wie in einem Kriegsgebiet.» Schon wieder dieses Wort.

Am Ende des Gesprächs sagt Simsek noch einen dieser Sätze, die nicht nur seine Gefühlslage beschreiben. Sondern die eines Landes, das gerade seine grösste Katastrophe erlebt nach Jahren der politischen und wirtschaftlichen Dauerkrise, nach Jahren unter dem ewigen Präsidenten Erdogan. «Es ist», sagt Simsek, «als würde man in ein tiefes Loch fallen.»