Medien in RusslandDie Freiheit wird eingeschnürt
Eine Verhaftungswelle rollt durchs Land, unabhängige Medien verschwinden, die Menschen können sich kaum noch bewegen: Die Folgen des Krieges werden auch in Russland immer sichtbarer.
Zahlen können flüchtig wirken, aber es gibt Namen: Anna Paschtschenko, Pawel Schewzow, Maria Ponomarenko, Tatjana Puschkina. Das sind die ersten auf einer langen Liste, festgenommen an diesem Sonntag in Nowosibirsk, dokumentiert vom russischen Bürgerrechtsportal OWD-Info. 559 Namen standen am Vormittag auf der landesweiten Liste, aber kaum ist eine halbe Stunde vergangen und die Website aktualisiert, sind es schon 792 Festnahmen in 27 russischen Städten, Stand 11.30 Uhr Schweizer Zeit. Da waren die westlichen Millionenstädte Sankt Petersburg und Moskau noch gar nicht erfasst. Aber dazu sollte es noch kommen.
Aus der Haft hatte der Oppositionspolitiker Alexei Nawalny für 14 Uhr Schweizer Zeit zu landesweiten Protesten aufgerufen. Aber auf die Idee sind viele Menschen auch so gekommen: zu demonstrieren gegen den Krieg in der Ukraine, der auch in Russland kritisiert wird – mit zunehmendem Risiko. Auch die liberale Partei Jabloko hatte über ihre regionalen Ableger zu Antikriegsdemonstrationen aufgerufen. Die Behörden hatten vor einer Teilnahme an solchen Demonstrationen gewarnt. Dass hart durchgegriffen würde, war also klar. 13.38 Uhr: 1783 Festnahmen in 44 Städten, jetzt ist auch Moskau dabei.
Das Leben in Russland schnürt sich zunehmend ein, nicht nur durch verbotene Kundgebungen. Es zeigt sich in vielen Facetten. Ein Gesetz vom vergangenen Freitag stellt nun unter Strafe, Falschinformationen über das russische Militär oder den Krieg gegen die Ukraine zu veröffentlichen, der in Russland als «Spezial-Militäroperation» bezeichnet wird. Wer sich daran nicht hält oder Despektierliches über die Streitkräfte veröffentlicht, muss mit Haftstrafen von bis zu 15 Jahren rechnen.
«Wir bleiben in Russland, es ist unser Land»
Die Internetseiten von mehr als 20 Medien sind in den vergangenen zwei Wochen bereits geschlossen worden, die beim liberalen Teil der Bevölkerung beliebten Sender Doschd und Echo Moskwy wurden abgeschaltet. Andere russische Medien berichteten zunächst weiter über den Krieg im Nachbarland, schrieben wie die Nachrichtenplattform Medusa chronologisch «Tag acht», «Tag neun», «Tag zehn seit Beginn des Einmarsches». Doch seitdem das neue Gesetz über Falschmeldungen in Kraft getreten ist, sind Druck und Gefahren noch einmal grösser geworden.
Mit Konsequenzen: Nikita Kondratjew, Nachrichtenchef der bekannten regierungskritischen «Nowaja Gaseta», erklärte, dass die Zeitung wegen des neuen Gesetzes «leider vorläufig» nicht mehr über die Front, über Kämpfe in der Ukraine berichten werde, auch nicht «über das Schicksal russischer Soldaten». Trotzdem will die «Nowaja», wie die Zeitung in Russland kurz genannt wird, nach Kondratjews Aussage nicht einfach ihre Arbeit beenden. «Wir gehen nicht ins Gefängnis und ins Arbeitslager. Wir reisen auch nicht nach Europa (gemeint ist das westliche Europa, Anm. d. Red.) aus oder nach Georgien. Wir bleiben in Russland, es ist unser Land», schreibt der Nachrichtenchef.
Am Sonntag berichtete die Nachrichtenagentur Interfax, dass die russische Aufsichtsbehörde auch die Internetseiten der russischen Medien Mediazona und Republik blockiert habe. In einer Regionalzeitung in der Grossstadt Pskow beschlagnahmte die Polizei Computer und Telefone, die Büros der langjährigen liberalen Oppositionspartei Jabloko seien durchsucht worden, berichtete Medusa, das auch weiter unverblümt von «Krieg» und «Einmarsch» schreibt. In einem Titel der Seite heisst es: «Innerhalb weniger Tage hat die Staatsmacht den kompletten Medienmarkt zerschlagen.»
Bewegungsfreiheit nimmt rapide ab
Auch die europäischen und amerikanischen Sanktionen sowie der Rückzug westlicher Unternehmen aus ihren Russlandgeschäften führen indirekt zu starken Einschränkungen in Russland. Die grösste russische Fluggesellschaft, Aeroflot, kündigte an, ausländische Flüge nur noch nach Belarus anzubieten, um zu vermeiden, dass Maschinen festgesetzt werden. Auch Uralskije Awialinii, eine der grössten Airlines Russlands, setzt Verbindungen etwa nach Aserbeidschan, Armenien, Israel, Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate aus. Die Gesellschaft S7, bekannt auch für ihre frisch-grüne Farbe, stoppt ebenfalls zahlreiche Flüge ins Ausland.
Die Bewegungsfreiheit für die Menschen in Russland nimmt rapide ab. Die Nachfrage nach Zugreisen steigt entsprechend, und auch dies führt zu logistischen Problemen. Die russische Zeitung «Fontanka» schrieb, dass Tickets für den Zug «Allegro» von Sankt Petersburg in die finnische Hauptstadt Helsinki praktisch kaum noch zu bekommen seien. Lediglich Bürger Russlands und Finnlands könnten die Strecke überhaupt noch nutzen. Präsident Wladimir Putin sagte am Wochenende bei einem Treffen mit Pilotinnen und Flugbegleiterinnen von Aeroflot, die Sanktionen des Westens kämen einer «Kriegserklärung» gleich.
Die gestiegenen Preise hatten in Russland zuletzt zu langen Schlangen vor den Banken geführt. Die Menschen versuchten wegen des Verfalls der Währung Geld abzuheben und in Fernseher, Computer oder Handys zu investieren. Am Sonntag, so berichtete die Zeitung «Komsomolskaja Prawda», begannen russische Geschäfte sogar damit, Lebensmittel nur in begrenzten Mengen an Kunden zu verkaufen. Jeweils zehn Kilogramm Zucker und Mehl, drei Packungen Salz und zehn Flaschen Pflanzenöl – mehr sollte nicht mehr an eine Person verkauft werden. Die russischen Ministerien für Industrie, Handel und Landwirtschaft hätten festgestellt, dass es Fälle gegeben habe, in denen einzelne Käufer sich mit abnormen Mengen an Brot, Fleisch, Reis, Eiern und Mehl eingedeckt hätten. Die Ministerien schrieben von «bis zu mehreren Tonnen». Mit den Abgabekontrollen bei den lebenswichtigen Produkten solle verhindert werden, dass mit Lebensmitteln spekuliert werde.
Mit dem Rückzug von Visa und Mastercard aus Russland stellen sich die Menschen und Medien des Landes nun die elementarsten Fragen: Können wir in den Geschäften noch bezahlen?, heisst die erste in einem Katalog auf der Internetseite der «Komsomolskaja Prawda». Können wir – wenn die Karten von russischen Banken ausgegeben worden seien, heisst die Antwort.
Am Sonntagabend war das Bürgerrechtsportal OWD-Info immer noch dabei, seine Zahlen zu aktualisieren. Seine Liste umfasste nun mehr als 4400 Festnahmen in mehr als 60 Städten, allein in Moskau waren es mehr als 2000.
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