Flucht vor dem KriegZu viele Helfer verstopfen die Fluchtwege
Die Slowakei bemüht sich, Flüchtlinge an der Grenze rasch abzufertigen. Doch westliche Autos mit Hilfsgütern versperren die Strassen. Und ukrainische Grenzer verlangsamen Hilfslieferungen ins Kriegsgebiet.
Das Erste, das Switlana auf der anderen Seite der Grenze auffällt: die vielen Süssigkeiten! Kaum hat die Ukrainerin aus Kiew mit ihrem sechsjährigen Sohn die Slowakei betreten, werden sie von freiwilligen Helfern mit Schokolade und Keksen begrüsst. «Auf der ukrainischen Seite wurden wir auch gut versorgt», sagt die junge Frau, deren richtiger Name aus Sicherheitsgründen hier nicht genannt wird: «Aber dort gab es Tee und Butterbrote. Hier bekommen die Kinder einen Zuckerschock.»
Vor vier Tagen ist Switlana mit ihrem Sohn, ihrer Schwägerin und deren Söhnen von zu Hause aufgebrochen. Die Männer blieben zurück, sie dienen jetzt in der territorialen Verteidigung der Stadt. Frauen und Kinder fuhren mit dem Auto in den äussersten Westen des Landes, der schon jenseits der Karpaten liegt. Von der Stadt Uschgorod ist es zu Fuss nur mehr ein Katzensprung in die Slowakei, zum Grenzübergang Vyšné Nemecke.
Der Ansturm auf die Grenze ist hier deutlich geringer als in Polen. Die Flüchtlinge müssen nicht bis zu acht Stunden auf ukrainischer Seite in bitterer Kälte warten. Switlana sagt, dass ihre kleine Gruppe nach 30 Minuten slowakischen Boden betreten konnte. Andere Flüchtlinge bestätigten das. Ein direkter Zug aus Kiew habe sie an die Grenze gebracht, erzählt die junge Ukrainerin Marta, die nun mit ihrem Hund Lucky auf die Weiterfahrt wartet.
Tumult auf dem Kiewer Bahnhof
Marta berichtet von tumultartigen Szenen auf dem Kiewer Hauptbahnhof: «Alle haben gedrängt, alle haben geschrien. Alle wollten in den Zug, als wäre es der letzte aus der Stadt.» Während der Fahrt habe sich die Lage schnell beruhigt. Die Frauen hätten einander geholfen, die verschreckten Kinder besänftigt und von ihren Männern erzählt, die das Land verteidigen: «Da sind in einer nächtlichen Zugfahrt neue Freundschaften entstanden», sagt Marta.
Auch nach der Ankunft in der Slowakei wirken die Ukrainerinnen bemerkenswert ruhig. Sie werden registriert, ihre Haustiere bekommen den in der EU obligaten Chip. Sie warten geduldig auf die Weiterfahrt in Bussen. Nein, es sind hier nicht die Flüchtlinge, die der slowakischen Polizei die meiste Arbeit bereiten.
Die Aufnahme der Flüchtlinge auf der slowakischen Seite durch lokale Behörden und einheimische Helfer wirkt sehr gut organisiert. Auch hier muss niemand allzu lange in der Kälte warten.
Grösseres Chaos verursachen die Hunderten Helferinnen und Helfer aus dem Ausland. Sie sind aus Deutschland, den Niederlanden, aus Österreich oder der Schweiz angereist, in endlosen Nachtfahrten, manche im eigenen Auto, andere in gemieteten Kleintransportern.
Ihre Fahrzeuge sind voll mit dem, was sie für dringend benötigte Hilfe halten: Babywindeln, Waschlotion, Kinderwagen, Kindersitze, Kuscheltiere, Zahnpasta. Sie alle meinen es nur gut, sie wollen ihren Beitrag leisten gegen Krieg und Elend.
Das Problem: Viele von den Hunderte Kilometer transportierten Hilfsgütern werden wohl nie Verwendung finden. Weder dies- noch jenseits der Grenze. Der Mangel an Waschlotion oder Kuscheltieren zählt nicht zu den grössten Problemen in der Ukraine.
Aber die Fahrzeuge der Helfer verstopfen die Zu- und Abfahrt zur Grenze, sodass es kaum noch Platz für Busse gibt, um die Flüchtlinge wegzubringen. Zudem brauchen die vielen Kisten Platz und Personal zum Abladen. Zurzeit ist das Verhältnis zwischen Helfenden und Flüchtenden geschätzt 3 zu 1.
«Jetzt ist Krieg und trotzdem geht die Einfuhr von Hilfsgütern nicht schneller.»
Es werden auch viele Güter an die Grenze gebracht, die in der Ukraine tatsächlich benötigt werden: Medikamente. Oder haltbare Lebensmittel. Doch um sie ins Land zu bringen, braucht es Geduld. Sehr viel Geduld. Die Grenze zur Ukraine ist zwar nicht geschlossen. Aber kleinere Autos mit Hilfsgütern warten davor acht, zehn, manchmal zwölf Stunden.
Für die schweren Camions dauert es mehrere Tage, bis sie die Grenze passieren können. Die ukrainischen Grenzbeamten würden sich einfach viel zu viel Zeit lassen mit ihren Kontrollen, erklärt ein slowakischer Polizist.
Lange Wartezeiten bei der Einreise in die Ukraine waren schon in Friedenszeiten die Regel. «Aber jetzt ist Krieg und trotzdem geht die Einfuhr von Hilfsgütern nicht schneller», sagt der Schweizer Luzius Etter. «Das ist nicht ganz ideal.»
Etter ist für die schweizerisch-deutsche Hilfsorganisation Libereco tätig. Diese hat auch den Journalisten von Tamedia an die Grenze mitgenommen. Etter soll nun einen Kleintransporter zu einer ukrainischen Partnerorganisation nach Uschgorod bringen. Er hat von «grünen Korridoren» gehört, durch die Hilfe schnell vor Ort gebracht werden kann. Davon kann in Vyšné Nemecke keine Rede sein.
Lieber nahe der Heimat bleiben
Nachdem die privaten Helferinnen und Helfer aus dem Westen auf der slowakischen Seite schliesslich doch ihre Autos entladen konnten, machen sie sich auf die Suche nach Passagieren für die Rückfahrt. Junge Männer mit Hipsterbärten werben mit selbst beschrifteten Pappschildern um Flüchtlingsfamilien: «4 Plätze nach Berlin». «Welcome to Italy!» Oder auch «We offer a safe home in Austria».
Die Nachfrage hält sich allerdings in Grenzen. «Viele von uns wollen lieber in der Nähe bleiben», erklärt die Ukrainerin Marta. «Wir hoffen immer noch, dass der Krieg bald zu Ende geht.» (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Leben im Ukraine-Krieg».)
Ein tschechischer Unternehmer, der sich als George vorstellt, ist mit zwei Helikoptern auf einer Wiese vor der Grenzstation gelandet. Auch er hat humanitäre Hilfe gebracht und dann noch Kisten, die er diskret im Hintergrund hält: mit Tarnanzügen, Combat-Westen, Militärstiefeln, vielleicht noch anderem Material. Spenden der tschechischen Polizei, sagt er.
Für den Flug zurück gibt es Platz für 15 Personen. «Wer möchte nach Tschechien fliegen?», fragt George im geheizten Grosszelt an der Grenze. Die Skepsis ist anfänglich gross. Die Menschen aus der Ukraine haben Helikopter in den vergangenen Tagen als tödliche Gefahr aus der Luft erlebt. Dann nehmen einige das Angebot doch an.
Konvoi in die Schweiz
Die Kiewerin Switlana bleibt am Boden. Sie und ihre Familie haben eine Mitfahrgelegenheit in einem Konvoi in die Schweiz bekommen. Wo sie leben werden, ist bei der abendlichen Abfahrt in der Ostslowakei noch nicht ganz geklärt. Aber «es wird sich alles finden», übt sich die Ukrainerin in Optimismus. Dann nimmt sie ihrem Sohn eine Limonade aus der Hand, die er von einer Helferin bekommen hat. Zu viel Zucker!
«Wir wollen keine Süssigkeiten», sagt Switlana resolut. «Wir wollen nur, dass uns jemand von diesem Monster in Moskau erlöst.» (Lesen Sie zum Thema die Analyse «Was Putins Kriegswillen schwächen könnte».)
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