Fussball-EM in EnglandDie Frauen sorgen für Rekorde und kämpfen doch gegen Karaoke-Abende
Eine halbe Million in den Stadien, Traumtore – und Ringen um Aufmerksamkeit: Das Turnier endet am Sonntag mit dem Final England - Deutschland.
Alles begann mit einem Knall. Am 6. Juli traf England im Old Trafford auf Österreich. Das 1:0 zum Auftakt der Europameisterschaft der Frauen war zwar kein Spektakel auf dem Rasen. Die 70’000 Menschen rund um das Spielfeld in Manchester aber schon. Eine solche Szenografie wünscht sich jede TV-Regisseurin.
Beim Final zwischen England und Deutschland werden am Sonntag im Wembley nochmals rund 90’000 Menschen dabei sein. Damit steigt die Zuschauerzahl dieses Turniers auf über 500’000. Das ist mehr als doppelt so viel wie beim bisherigen Rekordturnier, der EM 2017 in den Niederlanden.
Vor dem Turnier war es zu Diskussionen um die Wahl der Stadien gekommen. Die isländische Nationalspielerin Sara Björk Gunnarsdóttir etwa fand es «schockierend», dass die EM auch auf dem Campus von Manchester City ausgetragen werde.
Doch abgesehen von den Auftritten Englands waren die Gruppenspiele nicht ausverkauft: Sowohl die Niederländerinnen als auch die Schweden sind dafür bekannt, ihre Teams an grossen Turnieren in Scharen zu begleiten. Als die beiden Nationen aber in der Schweizer Gruppe aufeinandertrafen, blieben rund 7000 Plätze leer.
Abgesehen von den Engländern verbreiteten vor allem diese zwei Fangruppen EM-Fieber, die Orangen und die «Abba-singenden Horden» («Guardian»).
Selbstverständlich war dieses Fieber nicht. Denn gerade zu Beginn hatte es diese EM schwer, in den Gedanken der Menschen in England anzukommen. Manche Pubs, die sonst auch die Männer von Bournemouth gegen die Männer von Nottingham zeigen, veranstalteten Karaoke-Abende, obwohl doch eigentlich ein EM-Spiel lief. Oder sie zeigten Cricket. Und wenn doch EM-Fussball lief, dann auch gern mal ohne Ton.
Boris Johnson und Touristen im Rollstuhl
Zudem hatten die Medien anderes zu tun. Gerade als das Turnier begann, zerzauste es dem zum Rücktritt gezwungenen Premierminister Boris Johnson endgültig die Frisur. Und wer sich mit «Hasta la vista, baby» vom Parlament verabschiedet, landet auch 2022 noch eher auf der Titelseite als Fussballspiele der Frauen.
Sogar nach dem Finaleinzug Englands gab es mehrere Zeitungen, die auf anderes setzten. Der «Daily Star» etwa druckte auf seine Front gross die Geschichte einer Gruppe Touristen, die am Flughafen mit einem erschwindelten Rollstuhl eine Schlange umging. Mehr Sünde geht in England nicht.
Natürlich gibt es auch Zeitungen, die den Fussball gross erzählen. In all seinen Facetten. Inzwischen ist sogar der Anzug der englischen Trainerin Sarina Wiegman ein Gesprächsthema, 80 Pfund bei Marks & Spencer. Er könne zum Fashion-Statement avancieren, sagt man. Solche Nebenschauplätze sind auch immer ein Indikator dafür, wie ein Turnier bei jenen Menschen ankommt, die sich sonst kaum für Fussball interessieren.
England hat die Vorrunde dominiert. Und mit dem Sieg in der Verlängerung im Viertelfinal gegen Spanien ist die Popularität dieses Turniers noch mal gestiegen. Auch wegen seiner Verpackung: Die Spiele wurden immer von mindestens 15 Kameras eingefangen. Bei einer Partie der deutschen Frauen-Bundesliga sind es jeweils zwei.
Bei der BBC sahen zu Spitzenzeiten 9,3 Millionen Menschen zu, wie England den Halbfinal gegen Schweden gewann. Im deutschen Fernsehen waren durchschnittlich 12,2 Millionen beim Halbfinal gegen Frankreich dabei. Das ist Rekord.
Und die Schweiz droht den Anschluss zu verlieren
Bei den Vorrundenspielen der Schweiz schauten in der Deutschschweiz bei SRF zwischen 177’000 und 272’000 Menschen zu. Das sind Marktanteile zwischen 26 und 35 Prozent. Keine Fabelwerte. Aber sie zeigen, dass auch in der Schweiz das Interesse am Fussball der Frauen gestiegen ist.
Die Schweizer Fussballerinnen aber, die sind auf dem Rasen sehr weit weg von den Topnationen. Auch das hat dieses Turnier gezeigt. Frauenfussball-Direktorin Tatjana Haenni sagt es so: «Ich habe den Eindruck, dass wir den Anschluss verpassen.»
Trotzdem blieb die Schweiz vertreten: Esther Staubli leitete als Schiedsrichterin den Halbfinal zwischen England und Schweden. Und Patrik Grolimund aus Magglingen arbeitet als Assistenztrainer bei den deutschen Finalistinnen um die Überstürmerin Alexandra Popp.
Die BBC-Kommentatorin sagt, das Niveau auf dem Rasen sei so gut, dass sie sich endlich getraue, die Spielerinnen richtig zu kritisieren.
Wie die 31-Jährige gegen Frankreich im zweiten Halbfinal das 1:0 erzielte, zeigte, wie sehr sich der Fussball der Frauen in den letzten Jahren entwickelt hat. Diese Direktabnahme, flüssig in der Bewegung und ausgeführt mit der Präzision eines Wimpernschlags, sie muss als Tor des Turniers infrage kommen.
Robyn Cowen kommentiert für die BBC die Spiele des englischen Teams. Sie sagt im Fussball-Podcast des «Guardian»: Das Niveau sei so gut geworden, dass sie sich nach vielen Jahren erstmals getraue, die Spielerinnen für Fehler richtig zu kritisieren. Angesichts des Niveaus wäre es eine Überraschung, wenn Deutschland gegen England den Final wie 2009 mit 6:2 gewinnen würde.
Die Engländerin Jill Scott ist die einzige Spielerin von damals, die auch heute noch dabei ist. Inzwischen führt sie ein Café in Manchester, «Boxx2Boxx» heisst es. Scott postet jeweils Fotos, wenn ein Star der Premier League bei ihr einen Cappuccino trinkt. Dabei ist sie längst selbst eine Figur in England und Trägerin des Ritterordens.
Scott hat mit den Gastgeberinnen die Chance, den ersten Titel für ihr Land zu gewinnen. Spätestens dann wird der Fussball der Frauen alle Titelblätter auf der Insel einnehmen. Spätestens dann gehört ihm für einen Moment die ganze Aufmerksamkeit.
Fünf Tage danach beginnt die Premier League. Crystal Palace und Arsenal machen den Anfang. Und ab dann hallen die Missklänge der Karaoke-Sänger wieder an den Fussball-freien Abenden durch die Pubs.
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