Analyse zum historischen GipfelDie EU wagt den grössten Integrationsschritt seit dem Euro
Transfers und Schulden galten bisher als Tabu. Nun wagt Brüssel einen Integrationsschub. Es ist ein grosser Wurf – mit einigen Defiziten.
Am Ende des Marathons wollen alle Sieger sein. Kaum einer, der nicht das Wort historisch verwendet. Ja, die Staats- und Regierungschefs der EU haben sich nach zähen Verhandlungen zusammengerauft. Die Einigung auf einen siebenjährigen Haushaltsrahmen und den Corona-Wiederaufbaufonds in der Höhe von insgesamt 1,8 Billionen Euro ist ein Erfolg, der Deal unter dem Strich ein grosser Wurf.
Aussergewöhnliche Zeiten verlangten nach aussergewöhnlichen Antworten, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Emmanuel Macron. Die Ausgangslage war jedenfalls nicht einfach. Mit Grossbritannien ist ein wichtiger Nettozahler ausgefallen. Es galt beim siebenjährigen Haushalt die sogenannte Brexitlücke zu füllen, weshalb es für die übrig bleibenden Nettozahler im Club ohnehin schon teuer wird. Und dann kam noch die Corona-Pandemie. Mit dem Wiederaufbaufonds verdoppelt die EU für die nächsten drei Jahre praktisch ihren Haushalt.
Signal Richtung China und USA
Das ist ein kräftiges Signal auch in Richtung China und USA. Die EU demonstriert, dass sie handlungsfähig ist. Die Europäer stemmen sich gegen die Rezession nach Corona. Deutschland oder die Niederlande könnten das vielleicht aus eigener Kraft, Italien oder Spanien eher nicht. Die Europäer schaffen es nur gemeinsam oder gar nicht: Ohne gemeinsame Antwort drohen Binnenmarkt und Euro auseinanderzubrechen. Diese Gefahr ist nun vorerst gebannt.
Die Einigung ist ein grosser Wurf, weil die EU den grössten Integrationsschritt seit der Lancierung der Einheitswährung wagt. Eher widerwillig, aber wegen der Corona-Pandemie steht sie unter Handlungszwang. Der Wiederaufbaufonds sei eine historische Weichenstellung für Europa und die Eurozone, betonte Emmanuel Macron zu Recht. Die deutsche Bundeskanzlerin und Frankreichs Präsident Macron haben sich im Tandem mit ihrem Plan durchgesetzt, auch wenn sie am Ende Abstriche in Kauf nehmen und dem Quartett der sogenannten Sparsamen Vier mit dem Niederländer Mark Rutte Zugeständnisse machen mussten.
Ein doppelter Tabubruch
Erstmals darf die EU-Kommission im grossen Umfang Geld aufnehmen und es an Länder verteilen, die besonders unter dem Einbruch nach der Corona-Krise leiden. Im Topf sind insgesamt 750 Milliarden Euro, doch auch Mark Rutte kann sich als Sieger feiern, weil der Anteil an nicht rückzahlbaren Zuschüssen mit 390 Milliarden Euro deutlich niedriger ist als ursprünglich geplant. Trotzdem bleibt ein doppelter Tabubruch. Noch vor wenigen Monaten war politisch unvorstellbar, dass die EU in diesem Umfang Schulden machen und Transferleistungen zustimmen würde. Der Wiederaufbaufonds soll zwar eine Ausnahme sein. Aber so lief noch fast jeder Integrationsschub in der EU.
Der Präzedenzfall dürfte aber den Schritt Richtung Fiskalunion einleiten, hin zu einer gemeinsamen Finanz- und Steuerpolitik. Dazu gehört, dass nun die Diskussion über neue Eigenmittel für die EU, die sich bisher hauptsächlich über Mitgliedsbeiträge finanziert, lanciert ist. Irgendwie müssen die Schulden aus dem Corona-Fonds in Zukunft wieder zurückbezahlt werden. Die Rede ist von einer Plastiksteuer, von Abgaben für Digitalkonzerne, CO2-Abgaben oder einer Binnenmarktsteuer für grosse Unternehmen. Da könnten in Zukunft auch auf die Schweiz als Insel im Binnenmarkt Forderungen zukommen. Die Mittel sollen direkt in den Haushalt fliessen und die EU unabhängiger von den nationalen Mitgliedsbeiträgen machen.
Die Defizite
Es ist ein grosser Wurf, aber mit einigen Defiziten. Die Defizite dürften im EU-Parlament viel zu reden geben, das dem Deal zustimmen muss. Etwa, dass die Einigung beim siebenjährigen Haushaltsrahmen in letzter Minute mit Kürzungen ausgerechnet bei der Forschung, Forschungsprogrammen, dem Klimafonds oder der Gesundheit erkauft werden musste. Die Sparsamen Vier, die weniger einzahlen wollten, haben hier eine Pyrrhussieg erzielt. Geschont wurden die alte Politikfelder wie Landwirtschaft oder Strukturfonds, wo noch immer der Grossteil der Mittel hinfliesst, auf Kosten der Investitionen in die Zukunft. Die EU bleibt hier weit hinter ihrem Anspruch zurück.
Ein deutliches Indiz für Kehrseiten der Einigung ist auch, dass nach dem Gipfelmarathon auch Ungarns Regierungschef Viktor Orban und Polens Premier Mateusz Morawiecki sich ebenfalls als Sieger feiern. Der geplante Rechtsstaatsmechanismus ist in den langen Verhandlungsnächten weitgehend entschärft worden. Sonst hätten die Osteuropäer dem ganzen Paket nie zugestimmt. Orban und Co. hatten von Anfang an die besseren Karten. Es sollte ein wirkungsvolles Instrument sein, um den Geldfluss zu stoppen, wenn die Regierung in Budapest oder Warschau den Rechtsstaat weiter aushöhlt. Schliesslich sollen die europäischen Steuerzahler nicht den Umbau Ungarns oder Polens in gelenkte Demokratien mitfinanzieren müssen.
Und werden Italien, Spanien oder Griechenland die vielen Gelder, die ab nächstem Jahr zusätzlich fliessen werden, auch sinnvoll einsetzen können? Die Südeuropäer hatten bisher schon Mühe, die Mittel aus Brüssel zu absorbieren. Da muss sich etwas ändern. Nicht nur Italiens Premier Giuseppe Conte muss seinen Reformversprechen Taten folgen lassen, sonst bekommen die Skeptiker am Ende recht, und der grosse Wurf erweist sich als vertane Chance.
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