Analyse zum Lockdown-BruchDie Briten fragen sich, wer hier das Sagen hat
Boris Johnson hat sich hinter seinen mächtigen Chefberater Dominic Cummings gestellt und damit eine schwere Vertrauenskrise ausgelöst.
Am Wochenende glaubte Boris Johnson noch, dass er den Wirbel um seinen Chefberater Dominic Cummings durch eine knappe Vertrauensbekundung beenden könne. Das erwies sich als Irrtum im Kalkül von Downing Street. Nachdem am Sonntag schon die ersten konservativen Abgeordneten ihrem Unmut über die «Cummings-Affäre» Luft gemacht hatten, weitete sich die Empörung am Montag weiter aus – und richtete sich immer mehr gegen das Kabinett und den Regierungschef selbst.
Die «Daily Mail», eines der loyalsten Tory-Blätter, fragte auf ihrer Titelseite in grossen Lettern: «Auf welchem Planeten leben die denn?» Prominente britische Seuchenforscher kündigten Johnson die Gefolgschaft auf und warnten, dass die Regierung «den Kampf gegen das Coronavirus auf fatale Weise untergraben hat».
Wütende Bischöfe schelten Johnson
Britanniens Bischöfe, sonst eher stille Zeitgenossen, gaben alle Zurückhaltung auf und warfen dem Premierminister vor, «lächerlich» zu argumentieren, «keinerlei Respekt für die Bevölkerung» zu zeigen und es «an Redlichkeit fehlen» zu lassen. «Jetzt bleibt doch nur eine Frage», erklärte Nick Baines, der Bischof von Leeds, zornig. «Akzeptieren wir, dass man uns belügt und herablassend behandelt? Dass der Premierminister so tut, als wären wir blöd?»
Am Ende sah sich Dominic Cummings selbst veranlasst, eine Erklärung abzugeben. Was schon wieder gegen alle Konvention war: Regierungsberater äussern sich normalerweise nicht öffentlich. Aber bei diesem Berater hat Johnson immer eine Ausnahme gemacht. Und bei seinem Auftritt im Rosengarten hinter dem Regierungsgebäude bekräftigte Cummings nur immer wieder, dass er sich «vernünftig» verhalten habe. Für ihn ist es die Schuld «der Medienberichte der letzten Tage», dass ein «falscher Eindruck» von seinem Verhalten entstanden ist.
Ausser Johnson finden nur wenige Briten die Flucht aus London begreiflich.
Ausgelöst hatte den jüngsten Sturm der Erregung die heimliche Fahrt Cummings’ mit Frau und Kind zu seinen Eltern in Durham, 400 Kilometer entfernt von London – in krasser Missachtung aller Lockdown-Bestimmungen, die Cummings zuvor zu entwickeln und zu propagieren geholfen hatte. So recht in Gang kam die Affäre aber erst, als Boris Johnson versuchte, das Verhalten seines wichtigsten Mitarbeiters mit ein paar lockeren Worten zu entschuldigen.
Cummings’ «Vaterinstinkte» hätten seinen «verantwortungsbewussten» Berater begreiflicherweise dazu gebracht, eine Adresse anzulaufen, an der sein vierjähriger Sohn richtig umsorgt gewesen wäre, meinte Johnson. Zumal Cummings’ Frau schon Corona-Symptome zeigte und Cummings befürchtete, ebenfalls angesteckt zu sein.
Ausser Johnson finden allerdings nur wenige Briten diese Flucht aus London begreiflich. Ihnen selbst ist schliesslich seit Wochen bei Strafe verboten, irgendwelchen «Instinkten» zu folgen und im Falle von Erkrankungen den Lockdown zu brechen. Noch im Laufe des Montags meldeten sich Tausende aufgebrachter Bürger mit Berichten über die persönlichen und familiären Opfer, die sie selbst seit März erbracht haben, um Quarantänevorschriften einzuhalten.
«Nun erfahren wir also», erklärte Bischof Baines, «dass es eine Vorschrift fürs Volk gibt und eine andere für No. 10 und die Elite im Land.» Spöttische Kommentare zogen sich auch all die Minister Johnsons zu, die auf Geheiss des Premiers Cummings’ Aktion eilends verteidigt hatten. Besonderen Respekt hatte sich, zum Beispiel als Johnson selbst erkrankt und abwesend war, keines seiner Kabinettsmitglieder verschafft.
Cummings macht die Regierungspolitik
Was die Corona-Krise auf schmerzliche Weise ans Tageslicht brachte, war eher ein Mangel an Grösse, an echtem Talent in Johnsons Kabinett. Umso mehr war der Premier immer auf Dominic Cummings als seinen Vordenker angewiesen. Seinerseits ohne sonderlich differenzierte Zukunftsvisionen, schob der Premier seinem Topberater praktisch die Vorgabe britischer Regierungspolitik zu. Seine Gegner haben ihn von Anfang an als mächtigsten ungewählten Akteur aller Zeiten in Downing Street gesehen.
Und Dominic Cummings wusste seine Sonderstellung zu nutzen, indem er seine Kontrolle über Minister und Ministerien konsequent ausdehnte. In Sachen Coronavirus folgte Johnson offenbar willig seinem Rat, erst in diese, dann in eine andere Richtung. Auch der weiterhin unbeirrte Kurs Londons auf das Jahresendziel eines knallharten Brexit geht auf Cummings’ Vorstellungen zurück.
Indem er Cummings das durchgehen liess, ist Johnson ein gewaltiges Risiko eingegangen.
Das Ausmass, in dem sich Johnson von seinem Berater abhängig machte, hat zuletzt auch viele Konservative erschreckt. Was sich anfangs noch wie eine Affäre um eine unerlaubte Fahrt nach Nordengland ausnahm, geriet plötzlich zu einer Frage von nationaler Bedeutung. Am Montag fragten auch Johnsons Parteigänger offen, wer denn nun eigentlich das Sagen habe in 10 Downing Street.
Indem er Cummings dessen Verstoss gegen geltende Bestimmungen durchgehen liess, ist Boris Johnson jedenfalls ein gewaltiges Risiko eingegangen. Der Premier hat sich dem gefährlichen Vorwurf ausgesetzt, nicht mehr aufseiten der «kleinen Leute» zu stehen. Dieselben Politiker, die bisher «im Namen des Volkes» vehement gegen «die Elite» antraten, kommen ihren Landsleuten nun selbst wie genau diese Elite vor, die sich an keinerlei Regeln gebunden fühlt.
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