«Victory Day» in GrossbritannienDie Briten feiern, auch wenn die Leichentücher ausgehen
Corona überschattet die Festlichkeiten zum Kriegsende vor 75 Jahren. Und die «Helden» des Gesundheitswesens ärgern sich über das Versagen der Regierung.
An diesem Freitag wird gefeiert in Grossbritannien. Egal, wie es gerade steht ums Königreich. Die Briten sollen singen und trinken, tanzen und spielen. Die Regierung will, dass die Menschen frohen Mutes sind. Denn wer mag noch stündlich hören, dass Grossbritannien jetzt mit über 30’000 Toten die meisten Corona-Opfer in Europa verzeichnet? Dass die Bestattungsunternehmen melden, ihnen gingen die Leichentücher aus?
Mitten in dieser Misere bietet sich deprimierten Bürgern jetzt eine Gelegenheit zur kollektiven Selbstaufmunterung. Denn Freitag ist VE-Day. Das steht nicht einfach für Kriegsende und Befreiung vom Nazismus auf der Insel. Es bedeutet «Victory in Europe Day»: Das ist der Tag des Sieges über Englands Feinde auf dem europäischen Kontinent.
Viele Veranstaltungen waren geplant für diesen 75. Jahrestag, bevor der «unsichtbare Feind» die neuen Bedingungen diktierte. Früher hielt man farbenfrohe Paraden und ausgelassene Strassenfeste ab. Diesmal verlagert sich das Ganze in die «familiäre Sphäre». Aber das bedeutet nicht, dass man sich die Chance zum Feiern entgehen lassen möchte.
Soldatenfotos in den Fenstern
Zu diesem Zweck veröffentlichte das Kulturministerium Schablonen zum Basteln von blau-weiss-roten Girlanden, Orginalrezepte aus den 1940er-Jahren sowie zum VE-Day passende Gesellschaftsspiele. Damit dürfte die traditionelle Tea-Party für den Freitag gesichert sein.
«In schweren Zeiten wie diesen» sei ein Kriegergedenken ja «ganz besonders ergreifend», schwärmt Kulturminister Oliver Dowden. Das Gedenken erleichtern sollen kleine Soldatenmodelle, die der Veteranenverband der Royal British Legion zur Verfügung stellt. Zudem soll man Soldatenfotos aus dem Familienalbum ins Fenster rücken. «Tommy in the Window» heisst diese Kampagne auf den Fenstersimsen der Nation.
Sodann wird am Freitag Winston Churchills berühmte Ansprache zur Kapitulation Deutschlands erneut über den Äther gehen. Dazu hat sich die BBC verpflichtet. Sie will um jeden Preis dem Vorwurf konservativer Politiker und der Rechtspresse entgehen, nicht patriotisch genug zu sein.
Queen spricht erneut zur Nation
Der in Schottland weilende Thronfolger, Prinz Charles, wird Auszüge aus dem Tagebuch seines Grossvaters George VI. zum Kriegsende zum Besten geben. Und der Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, spricht von zu Hause aus für alle das Gebet.
Die Queen meldet sich mit einer neuen Ansprache aus Windsor. Elizabeth II. hatte jüngst schon die legendären Worte der Weltkriegssängerin Vera Lynn zitiert, gemäss denen sich ihre Landsleute an glücklicheren Tagen wieder zusammenfinden würden. «We’ll Meet Again», wenn die harten Zeiten vorbei sind. Eben dieses Lied soll dann zum Schluss des VE-Day die ganze Nation, in den Wohnungen und Gärten, anstimmen. Das soll Reminiszenzen wecken an den ungebrochenen britischen Widerstandsgeist und erinnern an den Lockdown einer anderen Zeit.
Zur Einstimmung auf den VE-Day gab es in den letzten Wochen jede Menge bunter Beilagen in den Zeitungen, ebenso feierliche Radiobeiträge und heroische Geschichten. «Captain Tom», der ehrenhalber zum Oberst befördert worden ist, grüsst die Briten von den Titelseiten der Zeitungen.
Tom Moore ist der Weltkriegsveteran, der mit seiner Gehhilfe hundert Mal seinen Garten umrundete und dem nationalen Gesundheitswesen (NHS) so 30 Millionen Pfund an Spenden einbrachte. Und dem die Nation zum Dank für seine «Heldentat» mit einer Ehrenformation historischer Kampfflugzeuge über dem Haus und einer Glückwunschkarte der Königin zum 100. Geburtstag gratuliert hat.
Von «Heroes» ist dieser Tage viel die Rede auf der Insel. Als «die gefallenen Helden der Nation» hat Gesundheitsminister Matt Hancock die über hundert Ärzte und Pfleger bezeichnet, die sich im «Kampf gegen das Virus» an der «Frontlinie» angesteckt haben und gestorben sind.
«Wonach ich mich wirklich sehne, das ist eine Maske und ein properer Schutzkittel dazu.»
Nicht vergeben können die Angehörigen dieser Corona-Opfer Premier Boris Johnson und seinen Ministern, dass seit Beginn der Krise zu keinem Zeitpunkt für genug Gesichtsmasken und Schutzkleidung für die «Frontkämpfer» gesorgt war – und es davon immer noch nicht genug gibt.
Als Hohn empfinden NHS-Leute die Vorschläge prominenter Tories, die zum Ritual gewordenen Donnerstagsbeifallsrunden für das Spitalpersonal durch gleichzeitige «Red Arrows»-Luftparaden zu überhöhen – und 1,5 Millionen NHS-Mitstreitern einen Verdienstorden zu verleihen.
Tapferkeitsmedaillen seien etwas Glanzvolles, meint Rachel Clarke, eine NHS-Ärztin, die als Sprecherin der Regierungskritiker auftritt. Aber im Moment seien ihre Bedürfnisse prosaischer. «Wonach ich mich wirklich sehne», so Clarke, «das ist eine Maske und ein properer Schutzkittel dazu.»
«Ansteckende Covid-19-Schlachten-Rhetorik»
Nicht dass Clarke etwas gegen die «Red Arrows» hat oder gegen eine «ernst gemeinte» Würdigung der Weltkriegssoldaten. Sie selbst ist verheiratet mit einem ehemaligen Royal-Air-Force-Piloten. Und wenn ihre Nachbarn den NHS beklatschen, rührt sie das zutiefst. «Aber die Kriegsrhetorik der Regierung ist etwas anderes», sagt sie. Das «überschwängliche Gerede» von Helden und Orden und fantastischen Siegen komme ihr zunehmend vor «wie eine clevere und gezielte Ablenkung» von der bitteren Realität.
Gefolgsleute Johnsons und all die Briten, die einfach nach Trost und Abwechslung dürsten, wird jedenfalls nichts davon abhalten, am Freitag zu feiern – so gut es eben geht. Unterdessen ist, je weiter die Pandemie im Königreich vorrückt, seitens der Regierung umso beharrlicher von «glorreichem Widerstand», von «Kriegsgeist» und von «heldenhaften Opfern» die Rede. «Nichts ist zurzeit so ansteckend wie Covid-19-Schlachten-Rhetorik», klagt Rachel Clarke. «Nicht mal das Virus selbst.»
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