Architektur-Biennale in VenedigDie Biennale widmet sich Afrika – und gibt sich politisch korrekt wie noch nie
Die Diagnose der Gegenwart fällt bei der Schau in Venedig prekär aus: Architektur muss sich Unterdrückung und Vertreibung stellen, damit ein «Change» möglich wird.
Venedig blickt nach Afrika. Erstmals steht der Kontinent im Fokus der Biennale. «Die ‹Geschichte› der Architektur ist unvollständig. Nicht falsch, aber unvollständig», erklärt Lesley Lokko. Die ghanaisch-schottische Architektin, Professorin und Romanautorin will sie um vielfältige Kapitel ergänzen und die Debatte öffnen.
Von den 89 Teilnehmern stammen mehr als die Hälfte aus Afrika oder haben afrikanische Wurzeln. Die Geschlechterquote ist ausgeglichen, das Durchschnittsalter beträgt 43 Jahre. Ein Zertifikat beglaubigt den Anlass als klimaneutral. Kurzum: Es ist die politisch korrekteste Biennale der Geschichte.
Die Hauptthemen ihres «Zukunftslabors» beschreibt Lesley Lokko mit schwergewichtigen Begriffen wie «Dekolonialisierung» und «Dekarbonisierung». Die Fachwelt war gespannt auf Grundsatzdebatten, wie sie die Biennale seit 2014 nicht mehr geführt hat, als Rem Kohlhaas kuratierte. Und sie wurde nicht enttäuscht.
Der Befund der Kuratorin: Die kapitalistische Gier des Westens hat die Menschheit aus dem Paradies auf Erden vertrieben.
Auf die Vergangenheit folgt die Diagnose zu heute – und diese fällt prekär aus. Der Mensch hat die Natur zu «synthetischen Landschaften» verunstaltet, in denen Öl auf dem Wasser brennt. Die Verantwortung dafür ist so ungleich verteilt wie das Geld: Das Bauen ist für vierzig Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich, ganz Afrika aber nur für 4 Prozent. Nicht nur die Natur, auch unsere Geschichte ist kontaminiert mit Kolonialismus, Unterdrückung und Vertreibung, wie Lokkos Schau mahnt. Ihr Befund: Die kapitalistische Gier des Westens hat die Menschheit aus dem Paradies auf Erden vertrieben. Die Architektur muss sich dieser Geschichte stellen, damit ein «Change» möglich wird.
Der Weg nach vorne startet in der Vergangenheit. «Wir müssen Bauweisen finden, die altes Wissen wiederbeleben», erklärt der burkinisch-deutsche Architekt und letztjährige Pritzker-Preisträger Diébédo Francis Kéré. Es geht um lokale Baustoffe wie Holz, Lehm oder Bambus. Wir lernen über indigenes Landmanagement, das egalitär und klimagerecht funktionieren soll. Oder über den «Afritect», der Menschen zusammenbringt, um Alltagsarchitektur kollektiv zu planen und zu bauen.
Welche Rolle die Technik im Zukunftslabor spielt, lässt Lokko offen. Ein dystopisches Video warnt vor einem künftigen Aufstand, den Roboter brutal niederschlagen, was an die Rassenunruhen im London der 1980er-Jahre erinnert. Der Künstler Olalekan Jeyifous hingegen träumt von einem hoch technisierten afrikanischen Utopia, das Technik und Natur in Einklang gebracht hat. Wenn es nur so einfach wäre wie in Wakanda, dem fiktiven Comic-Land aus «Black Panther».
Die Biennale wühlt auf und fordert heraus, aber sie lässt einen ratlos zurück. Lokko öffnet die Perspektive so stark, dass sie die zentrale Frage aus dem Blick verliert: Wie wird dieser Kontinent bebaut, dessen Bevölkerung sich bis 2050 verdoppeln wird? Die Situation ist paradox: Noch nie wurde so viel konstruiert wie heute. Doch die Architekten an der Biennale zeichnen keine Werkpläne, sie vermessen die Welt mit Karten. Mit Satellitenbildern hat ein niederländisches Büro die Konzentrationslager in der chinesischen Provinz Xinjiang kartografiert. Das Genfer Laboratoire d’architecture dokumentiert minutiös die bauliche Infrastruktur der Nomaden in der Schweiz und in Tunesien, deren Lebensstil verschwindet.
Lokko stellt wichtige und drängende Fragen: «Wie sollen wir mit dem öffentlichen Raum umgehen?» Die Antworten sollen die Besucher liefern. Die Biennale fragt und hinterfragt, bis sie sich selbst dekonstruiert hat: Im inszenierten Supermarkt im lettischen Beitrag kann man Produkte der letzten zehn Ausgaben kaufen. Selbst Lokko überlegte, ob sich das Format überholt hat: «Die Frage, ob Ausstellungen dieser Grössenordnung – sowohl in Bezug auf den CO₂-Verbrauch als auch auf die Kosten – gerechtfertigt sind, ist immer wieder aufgetaucht.»
Relevant bleibt die Biennale, indem sie die Menschen für architektonische Lösungen begeistert. Doch das Interesse der Kuratorin, die selbst nicht baut, liegt woanders. Im Hauptsaal hängen schemenhafte Grundrisse an Fäden von der Decke, darum herum schwirren Textfragmente – ganz so, als schwebte die Architektur insgesamt in der Luft. Die Baukultur im Wirbelwind des Diskurses.
Eine Ausnahme ist der ghanaisch-britische Architekt David Adjaye. Er plant öffentliche Bauwerke in halb Afrika, etwa eine nationale Kathedrale in Ghana oder eine präsidiale Bibliothek in Südafrika. Draussen hat er einen Holzpavillon konstruiert, der subtil mit der Wahrnehmung spielt. Das kann man als Eskapismus ansehen. Doch Architektur findet nicht nur im Kopf statt. Ihre Antworten auf die komplexen Fragen unserer Zeit müssen in der gebauten Realität überzeugen. Sonst bleiben sie bloss Gerede.
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