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Militärische Ehrung in Berlin
Deutschlands Abschied von Afghanistan schmerzt

Grosser Zapfenstreich: Mit dem höchsten militärischen Zeremoniell wurde der 20 Jahren dauernde Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan am Mittwochabend vor dem Reichstag in Berlin offiziell beendet.
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So viel Militär ist in der deutschen Hauptstadt selten. Am frühen Nachmittag wurden erst die 59 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr geehrt, die seit 2001 in Afghanistan gestorben oder gefallen sind. Danach fand im Hof des Verteidigungsministeriums ein feierlicher Schlussappell statt. Und am Abend kamen die Spitzen des deutschen Staates zum sogenannten Grossen Zapfenstreich zusammen, dem höchsten militärischen Zeremoniell.

Vor dem Reichstag ehrten Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sowie viele weitere Repräsentanten die 160’000 Soldatinnen und Soldaten, die in den letzten 20 Jahren für Deutschland im Hindukusch Dienst taten. Das Erste Deutsche Fernsehen übertrug beide Feiern direkt.

Eigentlich war der öffentliche Abschied im August geplant gewesen. Doch als die Taliban nach dem Abzug der westlichen Truppen Mitte August erneut die Macht ergriffen, hatte die Bundeswehr erst mal andere Sorgen. In einer dramatischen Mission evakuierte sie innert einer Woche 5350 Menschen vom eingekesselten Flughafen in Kabul. Statt von Abschied war in der Presse auf einmal von «Deutschlands Vietnam» die Rede.

In Deutschland zwischengelandet: Hunderte von afghanischen Familien leben seit ihrer Evakuierung durch das amerikanische Militär in improvisierten Flüchtlingslagern auf dem US-Militärstützpunkt Ramstein, bevor sie in die USA weiterreisen können.

Die militärischen Ehrbekundungen finden jetzt entsprechend auch in einer gänzlich anderen Stimmung statt als ursprünglich geplant – im Bewusstsein eines historischen Versagens, nicht eines allenfalls halben Erfolgs. Dass die Bilanz des Einsatzes und die Leistung der Bundeswehr überhaupt Aufmerksamkeit finden, ist ebenfalls neu. Als die letzten 264 deutschen Soldatinnen und Soldaten Ende Juni aus Afghanistan zurückkehrten, wurden sie in Deutschland weder von der Verteidigungsministerin noch von sonst einem hochrangigen Politiker empfangen.

In Berlin begegnet man dem ganzen Einsatz mittlerweile mit unverhohlener Scham. Den Soldatinnen und Soldaten gegenüber, die der Bundestag zwar regelmässig in gefährliche Friedensmissionen im Ausland schickt, denen die Öffentlichkeit aber in der Regel kaum mehr als gepflegtes Desinteresse entgegenbringt. Und natürlich jenen Menschen gegenüber, welche das deutsche Militär und verschiedene Entwicklungsorganisationen in Afghanistan vor Ort unterstützt haben – und die nun von Berlin zum grössten Teil schutzlos der Rache der Taliban überlassen worden sind.

Es geht gleich weiter: Afghanische Kinder in Ramstein warten darauf, dass sie ein Flugzeug in die USA besteigen können.

Mindestens 17 Milliarden Euro hat der 20-jährige deutsche Stabilisierungseinsatz in Afghanistan gekostet. Es war nicht nur die teuerste, sondern auch die verlustreichste und kraftraubendste Auslandsmission des deutschen Militärs seit dem Zweiten Weltkrieg. Nach den von Afghanistan aus geplanten Anschlägen vom 11. September 2001 ging es zunächst nur darum, islamistische Terroristen aus dem Land zu vertreiben. Im Laufe der Jahre wurde daraus allerdings ein umfassender Versuch, Afghanistan vor den Taliban zu schützen und wiederaufzubauen.

Deutschland, das erst 2010 erstmals offen aussprach, dass man in Afghanistan in einen «Krieg» verwickelt sei, hatte an diesem Perspektivwechsel einigen Anteil. Und obwohl schon 2009 eine deutliche Mehrheit der Deutschen einen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan wünschte und oftmals Erfolge vor Ort jedes Jahr von neuem auf sich warten liessen, wurde der Einsatz immer wieder verlängert. Erst der überstürzte Abzug der Amerikaner setzte dem im Juni ein Ende.

Zehntausende Helfer blieben in Afghanistan zurück

Die politische Aufarbeitung beginnt aber gerade erst. Der neue Bundestag wird dafür vermutlich eine sogenannte Enquête- oder eine förmliche Untersuchungskommission einrichten. Vor allem Grüne und FDP, die an der nächsten Regierung wahrscheinlich beteiligt sein werden, wollen Klarheit darüber gewinnen, wie Deutschland vom Kollaps Afghanistans derart überrascht werden konnte.

Noch zwei Tage vor dem Fall Kabuls hatte der Bundesnachrichtendienst der deutschen Regierung erklärt, die Taliban hätten im Moment weder ein Interesse noch die Fähigkeit, die Hauptstadt einzunehmen. Vier Ministerien hatten zuvor bereits seit April darüber gestritten, welche afghanischen Helfer und deren Familien nach dem Abzug der Bundeswehr auf welchem Wege in Deutschland Zuflucht finden könnten – mit dem Ergebnis, dass vor August nur einige Hundert in Sicherheit gebracht waren. Das Auswärtige Amt schätzt deren Gesamtzahl jedoch auf 50’000, von 25’000 spricht das Innenministerium.

Späte Ehrung: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (Mitte), Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble gedachten am Mittwoch der mehr als 50 deutschen Opfer des 20-jährigen Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr. 

Kanzlerin Angela Merkel, seit 2005 im Amt, äusserte Ende August in einer Debatte im Bundestag erstmals Zweifel daran, ob sich die westliche Mission in Afghanistan nicht zu hohe Ziele gesetzt habe. Die Bemühungen um Stabilisierung und Entwicklung seien «aller Ehren wert» gewesen, am Ende aber nahezu fruchtlos geblieben. Die Machtübernahme der Taliban nannte Merkel «furchtbar und bitter». FDP-Chef Christian Lindner und die Grünen-Chefin Annalena Baerbock reagierten fassungslos: Merkel stelle jetzt die Fragen, die sie im Bundestag seit Jahren gestellt hätten.

Bei den Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan im Einsatz waren, hat sich längst ein Gefühl der Vergeblichkeit breitgemacht. Die westliche Aufbauarbeit sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt und die Opfer nicht wert gewesen, sagen viele – auch die deutschen nicht.