Äthiopien vor dem BürgerkriegDer Vielvölkerstaat könnte zerfallen
Äthiopiens Präsident befiehlt der Armee, die Hauptstadt Tigrays zu erobern. Dort will die rebellische Führung aber weiterkämpfen. Soldaten heben Schützengräben aus.
Abiy Ahmed fordert die Menschen der Stadt Mekelle auf, zu Hause zu bleiben. Am Donnerstag befahl der Ministerpräsident von Äthiopien der Bundesarmee den Angriff auf die Regionalhauptstadt mit 500’000 Einwohnern. Am Sonntag hatte Abiy der abtrünnigen Region und ihrer Führung, der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF), ein 72-Stunden-Ultimatum gesetzt, die Waffen niederzulegen und sich zu ergeben.
Diese letzte Chance einer friedlichen Lösung des Konflikts hätten die Führer der Region Tigray verstreichen lassen, nun würden Panzer und Artillerie gegen Mekelle in Stellung gebracht. Die Armeeführung warnte die Zivilbevölkerung in Mekelle, dass es beim Angriff «keine Gnade» geben werde, was internationale Organisationen als einen Bruch des Völkerrechtes kritisierten. Abiy sagte nun am Donnerstag, dass alles getan werde, um Menschen und Gebäude zu schützen.
Mobilmachung und Schützengräben
Details vom Beginn der Offensive waren am Donnerstag unklar, die Nachrichtenagentur Reuters berichtete unter Berufung auf diplomatische Quellen, dass die TPLF in Mekelle mit einer Mobilisierung beginne und Schützengräben aushebe. Insgesamt sollen in der Region Tigray etwa 250’000 Milizionäre unter Waffen stehen. Der Krieg begann nach Darstellung von Ministerpräsident Abiy vor drei Wochen als Reaktion auf einen Angriff der TPLF auf eine Basis der Bundesarmee, bei dem Waffen erbeutet wurden.
Es war die letzte Eskalation eines Konflikts, der sich bereits über Monate hingezogen hatte. Äthiopien ist ein Land mit 110 Millionen Einwohnern und etwa achtzig Volksgruppen, unter denen die Tigray zwar nur etwa fünf Prozent ausmachen, aber jahrzehntelang führende Positionen in Politik und Wirtschaft innehatten. Bis schliesslich 2018 Ministerpräsident Abiy an die Macht kam, der erste aus der grössten Volksgruppe der Oromo.
Aufruf zum heldenhaften Widerstand
Er entfernte zahlreiche Tigray von ihren Positionen, viele ihrer Führer wurden wegen Korruption angeklagt. Die Elite der TPLF zog sich in ihre Region zurück, liess Wahlen abhalten, obwohl Abiy dies wegen Corona verboten hatte. Im Gegenzug strich die Zentralregierung Bundeshilfen. Kern des Konflikts ist neben Machtfragen und ökonomischen Interessen auch die Zukunft des Vielvölkerstaats Äthiopien. Ministerpräsident Abiy möchte die Rolle und Bedeutung der Region zugunsten einer starken Zentralregierung schwächen, viele Völker beharren auf ihrer erstrittene Teilautonomie.
Kritiker befürchten, dass der Angriff auf die TPLF in einem jahrelangen Guerillakrieg enden könnte, der schliesslich die ganze Region destabilisieren und zum Zerfall Äthiopiens führen könne. Friedensvermittlungen der Afrikanischen Union sind bisher gescheitert. Abiy hat sich mittlerweile jegliche internationale Einmischung verbeten, sie sei «nicht willkommen». Eine Haltung, die die Kritik am Krieg in Tigray nicht verstummen lässt, eher im Gegenteil. Menschrechtsorganisationen berichten von mindestens 40’000 Menschen, die vor den Kämpfen in den Sudan geflohen seien, in Teilen Tigrays sei die Versorgungslage kritisch.
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