Kolumne «Miniatur des Alltags»Der versetzte Passagier
Eine Zugreise ist nur dann entspannt, wenn man sich nicht mit einem fremden Passagier einen Platz teilen muss.
Wir waren bereits recht müde, als wir uns mit Rucksack und Koffer einen Weg durch den schmalen Korridor des TGV bahnten. Der Hochgeschwindigkeitszug sollte uns von Paris zurück nach Zürich bringen.
Angestrengt hielten wir Ausschau nach den reservierten Sitzplätzen mit den Nummern 95 und 96. Nach kurzem Suchen standen wir vor dem entsprechenden Viererabteil. Unsere Plätze lagen wie gewünscht nebeneinander. So weit, so gut. Doch auf einem der Sitze hatte es sich bereits ein Passagier gemütlich gemacht. Auf dem Klapptisch vor ihm lag sein kleines Imperium mit Laptop, Handy, Chips und Getränk.
«Entschuldigen Sie», sprach ich den Mann an. «Wir suchen unsere Plätze, die Nummern 95 und 96.» Der Herr lächelte jovial, deutete auf den Platz neben sich und den vis-à-vis und sagte, wir könnten uns hier niederlassen. Ich erklärte ihm freundlich, dass meine Tochter neben mir sitzen wolle und ich mich im Übrigen frage, ob er vielleicht einen unserer Plätze belege. Er überhörte meinen Hinweis geflissentlich.
Normalerweise hätte ich in einer solchen Situation kein Büro aufgemacht, und wir wären halt auf irgendeinem anderen Sessel gen Heimat gefahren. In diesem Fall hatte ich meiner Tochter aber versprochen, während der langen Reise mit Kopfhörern am Laptop gemeinsam einen Film anzuschauen. Dafür waren nebeneinanderliegende Plätze unabdingbar.
Ich unternahm also einen letzten Versuch und fragte den Mitpassagier, welche Sitzplatznummer er denn auf seinem Billett vermerkt habe. Da erhob sich weiter hinten im Waggon ein junger Mann mit hochrotem Kopf und rief: «Es tut mir leid, ich habe den falschen Platz getauscht, ich habe nicht die 95, sondern die 98 gebucht!»
Der falsch platzierte Herr erhob sich hoheitsvoll und begab sich zum gegenüberliegenden Platz Nummer 98. Sein Imperium aber liess er auf meiner Tischhälfte stehen.
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