Eisschnellläufer Nils van der PoelDer ungewöhnlichste Olympiasieger der Welt
Über Monate trainierte der Schwede nicht, absolvierte 1000 Fallschirmsprünge und dominierte doch an den Spielen. Nun hat er alle seine Kniffe für Nachahmer veröffentlicht.
Wenn man erfahren will, warum dieser Nils van der Poel ein derart ungewöhnlicher Olympiasieger ist, sollte man allenfalls mit dieser Anekdote beginnen: Als er im Frühling 2021 eine hohe Auszeichnung des schwedischen Sports erhielt, flog er mit dem Fallschirm ein. Denn Van der Poel fällt mit Begeisterung vom Himmel, hat schon über 1000 Sprünge hinter sich.
Oder man könnte auch diese Anekdote wählen: Gerade hatte er an diesen Spielen das zweite Olympiagold gewonnen, in Weltrekordzeit, da kündigte er mit 25 Jahren seinen Rücktritt an – und legte kurz darauf ein 62-seitiges Dokument vor. Darin hat er jedes Training seit Mai 2019 festgehalten und erklärt, wie er es zum Superschnell-Läufer schaffte.
Kaum Krafttraining, kein Stretching
Das Werk ist nur schon darum einmalig, weil wohl noch nie ein Athlet seines Formats derart detailliert und jedem zugänglich offenbarte, was er warum in diesen Monaten tat. Den Zahlen gehen viele Seiten voraus, in denen sich Van der Poel erklärt.
Ein kleiner Spoiler vorweg: Auf Krafttraining hat er in diesen 33 Monaten fast komplett verzichtet, auf Stretching oder spezielles Essen komplett – und trainiert hat er oft schon gar nicht wie seine Konkurrenten. Sein Ansatz ist darum wie sein Leben insgesamt: sehr, sehr, sehr unüblich, ja einzigartig.
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Tauchen wir darum in dieses faszinierende (Sport-)Leben eines jungen Mannes ein, das nach den Spielen von 2018 erst einmal mit einem kompletten Eisschnelllauf-Stopp begann. Van der Poel ging ins Militär, stellte seine Schlittschuhe in den Schrank und absolvierte für 365 Tage nicht ein einziges Eisschnelllauf-spezifisches Training.
Der Grund? Er sagt, das Training für seinen Sport sei dermassen eintönig, dass es regelrecht «ankacke». Weil er jedoch auch glaubt, dass derjenige mit der besten Vorbereitung gewinnt, trainierte er für Peking phasenweise bis zu acht Stunden am Tag.
Um diese spezifischen Phasen zu überstehen, die hart und zugleich monoton seien, brauchte er einen Berg an positiven Erinnerungen: die vielen tollen Momente in der Luft zählen für ihn dazu – oder selbst die Abwechslung aus dem Militär.
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Um einen Dauerablöscher zu vermeiden, wählte er eine klassische Arbeitswoche: Van der Poel trainierte von Montag bis Freitag, das Wochenende nahm er sich frei. Nur schon dieser Ansatz ist für einen Ausdauersportler seines Formats ungewöhnlich.
Wer wie er mitunter über 1000 Stunden pro Jahr malocht, verteilt die Last oft über die ganze Woche – auch weil er glaubt, die Gegner würden sich ebenfalls kaum Freizeit gönnen.
Er wollte sich nicht über seine Erfolge definieren. Denn der Spitzensport ist nur ein Teil seines Lebens.
Van der Poel hingegen schaffte sich an den Wochenenden eine Insel des Freiraums, in der er auf Training verzichtete und oft Freunde traf. Stichwort hier auch: Spass haben. Denn in jungen Jahren stellte er (als Juniorenweltmeister) fest, dass er sich einzig über seinen Sport definierte. Indem er das restliche Leben mindestens so stark gewichtete, relativierte er seine Sportwelt und machte sich weniger von Erfolgen abhängig.
Die Denkweise dahinter: Olympiasieger Van der Poel ist sehr viel mehr als einfach Sportler, nämlich schlicht Mensch. Konsequenterweise besteht sein privates Umfeld mehrheitlich aus Leuten, die keinen Elitesport betreiben. Die Balance ist ihm wichtig, gerade weil er immer wusste, wie endlich seine Karriere sein würde.
Dass selbst ein so vielseitiger Sportler wie er erst einmal die Balance finden musste, beschreibt er in seinem Dokument auch: Schliesslich war gerade sein junges Sportlerleben wie jedes andere – und im Ungleichgewicht. Er brauchte Willen und Mut, selbst in Trainingslagern, in denen er mitunter 40 Stunden an fünf Tagen schwitzte, die Wochenenden freizunehmen.
Diese freie Zeit aber habe ihn gezwungen, sich zu fragen, wer er sei und was er könne beziehungsweise wolle. Spitzenathlet bis ins hohe Alter sein gehört nicht dazu. Darum ist er sich sicher, Ende Saison aufzuhören. Allerdings glaubte er schon einmal, seine Laufbahn beendet zu haben.
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Dass er nun bereits mit 25 Jahren fast alle seine Kniffe veröffentlicht, will er jedoch primär so verstanden haben: Er habe seinen Teil in diesem wunderbaren Sport geleistet, jetzt sei es an anderen, ihn weiterzubringen. Er wiederum wolle seinen Nachfolgern auch mit seinem Dokument helfen, in dem er seine Lehren teile.
Das klingt für manche Ohren allenfalls etwas aufgesetzt. Aber dazu kann man nur die nächste Episode erzählen: Vor seinem 5000-m-Sieg an diesen Spielen feuerte er im Innenraum des Stadions seinen härtesten Widersacher aus den Niederlanden derart frenetisch an, dass er laut Regelwerk hätte disqualifiziert werden können (was Van der Poel nicht wusste).
Auch mal ein Ultramarathon über 280 km
Dass er sich nach seinem zweiten Gold darum auch bei seinen Konkurrenten bedankte, war natürlich ebenfalls speziell. Er erwähnte sie darum, weil sie das Maximum aus ihm herausgeholt und ihn gezwungen hätten, diesen aussergewöhnlichen Weg zu gehen. Schliesslich wollte er sie an den Spielen ja bezwingen.
Nun zu seinem Training, das nur schon darum für einen Eisschnellläufer aussergewöhnlich ist, weil er seine Basis und damit Grundlage in stundenlangen Velotrainings legte – und mitunter mit Ultramarathon-Wettkämpfen, in denen er in 5 Tagen 280 km rannte.
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Eine Absicht dahinter: Ob er es zum Olympiasieger bringen würde, wusste er ja nicht. Dafür gab es keine Garantie. Sich in den Trainings aber Erinnerungen zu schaffen, die ein Leben lang hielten, das konnte er. Diese besonderen Erlebnisse wiederum motivierten ihn im Trainingsalltag und erfüllten ihn über den täglichen Sport hinaus. Kurz: machten ihn als Menschen glücklicher.
An solchen Trainingstagen mit vielen Stunden habe er 7000 Kilokalorien gegessen. Um auf so viele Kalorien zu kommen, habe er teilweise ungesund gegessen, viele Chips und Süssigkeiten (gar Vollrahm als Drink). Die Folge trotz regelmässigem Zähneputzen: Seine Zähnen hätten gelitten. Das Dauerfuttern hat ihn darum wenig erfreut.
Sinn dieses zweiten Blocks: Die Ausdauerleistungsfähigkeit zu steigern (dafür brauchte er die Grundlage des Blocks davor, um optimal profitieren zu können). Aussergewöhnlich ist: Andere Athleten «mischen» die Trainingsarten oft, Van der Poel hingegen setzte ganz auf einen Reiz – und verzichtete als Konsequenz auf alles, was er für unwichtig hielt, weil es ansonsten ebenfalls (Trainings-)Zeit dafür gebraucht hätte.
Die Selbstkritik
Dazu zählten: vollumfängliches Krafttraining oder Stretching. Er findet im Rückblick: Er hätte sich dafür im Sinne der Verletzungsprophylaxe wenigstens ein paar Minuten die Woche nehmen müssen (obschon er sich nicht schwer verletzte). Auffällig auch: Bislang stand der Eisschnellläufer Van der Poel nur in den finalen Tagen dieses Zyklus auf dem Eis, um sich auf den nächsten Block vorzubereiten.
An den Spielen zeigte sich, dass Van der Poel exakt diese Rundenzeiten des finalen Trainingsblocks über die ganze Distanz abspulen konnte – wie ein Metronom. Er fing über 5000 m darum den bis dato schnelleren Niederländer Roest noch in der finalen Runde ab. Über 10’000 war er so konstant schnell wie kein anderer und den Konkurrenten mit einem Vorsprung von 14 Sekunden und mehr weit überlegen.
Mit diesem Aufbau stellte er im November 2021 schon Topzeiten auf, um erneut unüblich vorzugehen: Er verzichtete darauf ein paar Wochen auf harte Eistrainings und schob einen weiteren Ausdauerblock mit täglichen Radeinheiten von 6 Stunden ein. Der Grund: Übertraining zu verhindern. Auf diesen Erholungsblock folgte ein nächster Intervallblock auf die Spiele hin.
Zu seiner Philosophie sagt er: «Mein Trainingsprogramm ist sehr, sehr einfach, nichts Spezielles – aber mitunter brutal hart. Ich machte nur, was ich begriff, kaufte dafür kein teures Equipment, denn Eisschnelllaufen besteht für mich aus einer einbeinigen Kniebeuge, die immer und immer wieder bei Maximalpuls durchgeführt wird.»
Für mögliche Nachfolger gibt er im Dokument viele weitere Tipps, etwa zum Umgang mit Alkohol (während der lockeren Phase habe er «Bier wie jeder normale 25-Jährige getrunken»), Trainingskollegen, dem Coach oder Ferien. Auch Medien-Ratschläge gehören dazu. Diese Ausführungen zeigen mitunter, wie anders er tickt.
Liefere Geschichten für die Medien
Seine Devise: Er habe sich immer überlegt, was er sagen wollte – und stets nach Interessantem zum Publizieren gesucht. Auf diese Weise habe er das Vertrauen der Journalisten gewonnen, aber auch stets davon ausgehen können, dass sie ihm mit Respekt begegnen würden, weil sie wussten: Der Van der Poel denkt mit und liefert Erzählungswürdiges. Habe man hingegen den Respekt vermissen lassen, habe er stets interveniert – aber immer ruhig und mit Stil.
Seine Gesamtbilanz: «Das Schwierigste an meinem Programm war, es mit einem Lächeln zu überstehen. Sobald ich Wege gefunden hatte, das Training zu geniessen, war ich nicht mehr zu stoppen. Und wenn ich mal wieder litt, half Glace – manchmal ganz viel Glace.»
Er endet mit einem Appell an seine Leser und Leserinnen: «Seid mutig, übertut euch nicht – aber sucht immer das Limit.» Oder anders formuliert: Lebt.
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