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Meinung

Gastkommentar zur Schweizer Geschichte
Der unfehlbare Papst und die freisinnige «Synagoge des Satans»

Er erklärte sich für unfehlbar: Skulptur von Papst Pius IX. in der Kirche San Lorenzo fuori le mura in Rom.
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Die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit vom 18. Juli 1870 war eine besondere Provokation, weil sie den Höhepunkt einer jahrelangen Kampagne gegen die liberalen und modernen «Irrtümer» bildete. Die NZZ hatte bereits im Sommer 1869 unter dem Titel «Die Schweiz und das nächste Konzil» vom Bund gefordert, «Staat und Schule» von einer derartigen Papstkirche «vollständig freizumachen».

Im April 1870 rief eine freisinnige Grossveranstaltung in Langenthal den Bundesrat auf, die «in hohem Masse gefährdeten Bedingungen des konfessionellen Bruderfriedens» zu wahren. Die öffentlichen Warnungen gemässigter Konservativer wie des Luzerner Nationalrats Philipp Anton von Segesser vor einem kirchlichen «Absolutismus» bestätigten die liberalen und protestantischen Befürchtungen.

Aufgrund der bereits entfesselten Polemik gegen eine Unfehlbarkeitserklärung hatte selbst der deutsch-französische Krieg, der am 19. Juli 1870 ausbrach, keine dämpfende Wirkung. Gemäss Peter Stadlers «Kulturkampf in der Schweiz» trugen «die Emotionen, die vom Unfehlbarkeitsdogma ausgingen, dem Radikalismus neue Kräfte zu». Und sie ermöglichten es «einer aktiven Gruppe liberaler Katholiken», die «neue Verfassung» wesentlich zu prägen.

Gleichberechtigung der Juden

Deren wichtigsten Errungenschaften waren die Gleichberechtigung der Juden und damit die Entkoppelung von staatsbürgerlicher und religiöser Zugehörigkeit, die konfessionell neutrale Schule, die Zivilehe. Weil aber der Krieg, der bis in den Mai 1871 dauerte, die Deutschschweizer Radikalen dazu verführt hatte, bei der Zentralisierung des Militärs zu weit zu gehen, scheiterte die Bundesverfassung am 12. Mai 1872 an einer unheiligen Allianz der Konservativen und der welschen Freisinnigen, den föderalistischen Radicaux.

Es waren ausgerechnet der Genfer Geistliche Gaspard Mermillod, einer der profiliertesten Unfehlbarkeitsverfechter, und Papst Pius IX., die dem Freisinn aus der Patsche halfen. Der Papst, zu dessen Zielen es gehörte, das protestantische Dreieck London-Berlin-Genf zu zerschlagen, motivierte Mermillod, in der Calvin-Stadt einen Bischofssitz zu errichten. Als diese Pläne im Juli 1872 ruchbar wurden, löste das einen Sturm der Entrüstung aus. Selbst Segesser wies darauf hin, dass die katholischen Eidgenossen eine derartige Einmischung Roms abgelehnt hätten.

Die Genfer Radicaux verwiesen den Schweizer Mermillod des Landes und fügten dem Verfassungsentwurf einen neuen Bistumsartikel bei. Die erst 2001 aufgehobene Bestimmung machte die Errichtung von Bistümern bewilligungspflichtig. Der Antiklerikalismus wurde im Verfassungsentwurf verschärft, der Zentralismus abgeschwächt. Die konservativ-protestantische «Eidgenossenschaft» schrieb resigniert: «Es war Herr Mermillod, der die Genfer Radikalen ins Ja-Lager trieb.»

Der Papst greift den Freisinn an

Ihren letzten Schub erhielt die neue Bundesverfassung Ende 1873 durch eine knallharte Enzyklika des Papstes gegen den Schweizer Freisinn. Der Unfehlbare warf diesem vor, «gegen die katholische Kirche einen Krieg zu führen». Und fügte dem folgende Aussage bei: «Sie bilden die Synagoge des Satans, die den Kampf gegen die Kirche Christi führt.» Mit «Synagoge des Satans», einem Zitat aus der Johannes-Offenbarung, meinte Pius XI. primär die Freimaurer. Die Freisinnigen gesellte er diesen bei. Angesichts der damaligen Schlüsselfrage: Judenemanzipation oder christlicher Staat waren die Juden mitbetroffen.

Dem bislang höchst geduldigen Bundesrat blieb nach diesem Affront nichts anderes übrig, als die päpstliche Nuntiatur zu schliessen. Am 19. April 1874 stimmten zwei Drittel des Männervolks bei einer Beteiligung von 82 Prozent dem vom Vatikan verteufelten Verfassungswerk zu.