Neue Erkenntnisse über die MayaDer Tag, an dem König Jaguartatze starb
Mit der Ankunft eines fremden Kriegsherrn in der Maya-Stadt Tikal begann eine Zeit der Gewalt und der politischen Veränderung. Sehr wahrscheinlich hatte dies mit Teotihuacán zu tun, der sagenhaften, hoch entwickelten Metropole jener Zeit.

Am 16. Januar 378 westlicher Zeitrechnung kam ein Fremder in Tikal an, in der grossen Maya-Stadt im Norden Guatemalas. Sein Name war Sihyaj K’ahk’, was so viel heisst wie: «Feuer ist geboren». Wahrscheinlich war er ein mächtiger Kriegsherr.
Viele Archäologen vermuten, dass er aus Teotihuacán stammte, einer Metropole mit seinerzeit 100’000 Einwohnern, etwa 1000 Kilometer nordwestlich von Tikal gelegen, in der Nähe des heutigen Mexiko-Stadt. Und wahrscheinlich führte er eine Armee an.
Steinerne Quellen
Die steinernen Maya-Stelen, die Sihyaj K’ahk’s Ankunft dokumentieren, berichten nichts darüber, warum er kam oder wie er von Chak Tok Ich’aak – Jaguartatze –, dem langjährigen König von Tikal, empfangen wurde. Aber der Tag, an dem Sihyaj K’ahk’ in die Stadt marschierte, war der Tag, an dem Jaguartatze starb.Die Gravuren deuten nach Ansicht einiger Forscher darauf hin, dass Sihyaj K’ahk’ von einem ausländischen Herrscher namens Speerwerfer-Eule geschickt worden war, zumal zwei Jahre später dessen junger Sohn zum neuen König von Tikal gekrönt wurde.
Auf den Porträts, die dort in die steinernen Monumente gemeisselt sind, hält der neue König Yax Nuun Ayiin einen Atlatl, eine Speerschleuder, wie sie von den Kriegern in Teotihuacán benutzt wurde. Ausserdem trägt er einen mit Quasten geschmückten Kopfschmuck in dem damals dort üblichen Stil. Einige Bilder von ihm und seinem Vater auf Denkmälern in Tikal sind im flachen, geometrischen Stil der Teotihuacán-Kunst geschnitzt, der sich deutlich von den naturalistischen Porträts der Maya unterscheidet.
Archäologen kennen diese Geschichte seit Jahrzehnten. Doch neue Funde haben das Interesse an der Beziehung zwischen Teotihuacán und Tikal neu geweckt. Sie deuten darauf hin, dass die Abläufe komplexer waren als bislang gedacht.
War es eine Palastintrige?
So zweifeln manche Forscher mittlerweile daran, dass Teotihuacán damals Tikal vollständig unterworfen hat – auch wenn es in den Schriften und der Kunst der Maya so dargestellt wird. Vielleicht waren die Ereignisse von 378 n. Chr. nur eine Palastintrige. Sihyaj K’ahk’ und seine Armee könnten lokale Maya-Usurpatoren gewesen sein, die sich die Symbolik des fernen Teotihuacán nur aus Propagandagründen angeeignet hatten. «Wir haben erstaunliche neue Funde, die ein deutlicheres Bild zeichnen, wo wir früher nur über Skizzen verfügten», sagt Stephen Houston, Archäologe an der Brown University.
Hätten Maya-Reisende Teotihuacán im vierten Jahrhundert n. Chr. besucht, wären sie auf eine für sie einzigartige Stadt gestossen. Neben der Hauptstrasse, der Strasse der Toten, ragten drei riesige Pyramiden auf, die an die grossen, schneebedeckten Vulkane des Landes erinnern. Die 100’000 Einwohner der Stadt lebten in komfortablen, standardisierten Apartmentkomplexen, erschlossen von einem geordneten Strassennetz.
Es war eine egalitäre Gesellschaft. Aber das Militärische war wichtig, das belegen zahlreiche Darstellungen von Kriegern, in den Gräbern finden sich viele Skelette im soldatischen Ornat.Kaufleute aus entfernten Orten wie Oaxaca im Südosten und von der Golfküste versorgten die Märkte Teotihuacáns, Pilger strömten zu religiösen Zeremonien. Einige dieser Fremden liessen sich auch nieder und gründeten eigene Enklaven.
Diplomatie und Handel mit den Maya waren mühsam, da ihr Gebiet politisch ähnlich fragmentiert war wie das antike Griechenland.
Die Bewohner Teotihuacáns waren wahrscheinlich ähnlich fasziniert von der Maya-Region im heutigen Südmexiko, Guatemala, Belize und Honduras. Weit im Osten Mesoamerikas lag sie in der Richtung der aufgehenden Sonne, die mythologisch wichtig war. Obwohl in beiden Kulturen Mais das Grundnahrungsmittel war, stammten in Teotihuacán geschätzte Luxusgüter wie Jade, Kakao und Quetzalfedern aus dem Dschungel des Maya-Tieflandes.
Diplomatie und Handel mit den Maya waren jedoch mühsam, da ihr Gebiet politisch ähnlich fragmentiert war wie das antike Griechenland. Es bestand aus zahlreichen weitgehend unabhängigen Stadtstaaten, die aber durch gemeinsame Religion und Kultur miteinander verbunden waren. Die mächtigsten Staaten wie Tikal und sein nahe gelegener Rivale Calakmul setzten auf die Loyalität kleinerer Städte. Aber die Allianzen wechselten ständig, und kein Maya-König schaffte es jemals, die gesamte, 390’000 Quadratkilometer grosse Region politisch zu einen. Teotihuacán hatte wahrscheinlich ständig sich ändernde Beziehungen zu verschiedenen Städten.

Der Austausch zwischen den beiden Gesellschaften hinterliess viele Spuren in Kunst und Kultur. Am engsten waren ihre Beziehungen im vierten und fünften Jahrhundert n. Chr., in der sogenannten frühen Klassik Mesoamerikas. Allerdings streiten die Forscher darüber, ob diese Beziehungen friedlich waren und auf Gegenseitigkeit beruhten oder ob sie von Gewalt und Herrschaft geprägt waren.
An einem sonnigen Sommermorgen arbeitet die Archäologin Nawa Sugiyama vom UC Riverside in einem Tunnel, den ihr Team unter einer beeindruckenden Pyramide gegraben hat. Direkt an der Strasse der Toten und zwischen den gewaltigen Sonnen- und Mondpyramiden befindet sich das Gebäude auf dem Platz der Säulen, der aus mehreren miteinander verbundenen Plätzen und grossen Pyramiden besteht. Sugiyama kauert unter der niedrigen Decke des Tunnels und inspiziert Dutzende Keramikscherben, die von ihren Studenten und Projektmitarbeitern sorgfältig ausgegraben wurden.
Ein friedliches Zusammenleben – vorerst
Die Scherben zeigen eine Mischung aus Maya- und Teotihuacán-Stil und zeugen nicht von Gewalt, sondern von Feierlichkeiten: Die feine Keramik wurde zerbrochen, um sie am Ende eines Festes als eine Art Opfergabe feierlich in eine Grube zu geben. Die Forscher haben bereits mehr als 10’000 Keramikstücke ausgegraben, durchschnittlich 250 pro Tag. «Ich habe so etwas noch nie gesehen», sagt Sugiyama. Sie vermutet, dass die Bewohner Teotihuacáns und die Maya-Gäste gemeinsam gefeiert haben, vielleicht um die Fertigstellung der Pyramide zu feiern. Die Radiokarbondatierung von verbrannten Speiseresten, Kaninchenknochen, Mais und Yucca belegt, dass das Fest zwischen 300 und 350 n. Chr. stattgefunden haben muss.
«Sie praktizieren ihre eigenen Bräuche, was für ein friedliches Zusammenleben mit dem Rest der Teotihuacán-Gesellschaft spricht.»
Auf der anderen Seite des Platzes haben Sugiyama und ihre Mitarbeiter Mauerwerk entdeckt, das einst mit Maya-Mustern verziert war, in lebendigen Farben wie Blau und Grün. «Sie praktizieren ihre eigenen Bräuche, was für ein friedliches Zusammenleben mit dem Rest der Teotihuacán-Gesellschaft spricht», sagt Verónica Ortega, Archäologin am mexikanischen Nationalen Institut für Anthropologie und Geschichte, die gemeinsam mit Sugiyama das Grabungsprojekt leitet.
Aber einige Jahrzehnte nach dem Fest, laut Radiokarbondatierung zwischen 350 und 400 n. Chr., muss sich etwas verändert haben. Aus dieser Zeit fand das Team Bilder, die von den Wänden gerissen und zerbrochen worden waren, Gesichter waren abgekratzt. «Absolut ausgelöscht», sagt Sugiyama. «Das war ein Akt der absichtlichen Zerstörung.»
Ortega widerspricht, sie sieht auch hier ein Ritual, an dem Teotihuacáner und Maya teilnahmen – vergleichbar mit der zerbrochenen Keramik bei den früheren Feierlichkeiten. Sugiyama weist jedoch darauf hin, dass das Wegkratzen einzelner Gesichter ein extremer Akt der Auslöschung ist, unwahrscheinlich, dass die Maya-Bewohner dem zugestimmt hätten.
Zudem fanden die Archäologen in einer nahe gelegenen Grube zahlreiche menschliche Skelette, die dunkle Fragen aufwerfen: Sie waren zerstückelt, was bei Bestattungen in Teotihuacán eigentlich nicht üblich war – die Überreste eines Massakers? Einige Schädel sind abgeflacht, bei einigen Zähnen finden sich Löcher für Schmuck, beides typische Maya-Praktiken. Wenn jetzt auch noch Isotopen- und DNA-Analysen die Identität der Skelette bestätigen, wären sie womöglich ein Beleg für Gewalt an den Maya. Wobei erste Datierungen erstaunlicherweise darauf hindeuten, dass die Knochen ausgerechnet zur Zeit des vermeintlich friedlichen Scherbenfestes deponiert wurden.
Klarer ist die Lage bei den Wandbildern: Sie wurden in dem Zeitraum zerstört, in dem auch Sihyaj K’ahk’ im Jahr 378 n. Chr. Tikal erreichte und die Teotihuacáner Städte im Maya-Tiefland angriffen. Hatten sich die diplomatischen Beziehungen aus irgendeinem Grund verschlechtert?
Als Sihyaj K’ahk’ in Tikal ankam, fand er eine kleinere, weniger zentralisierte Stadt als Teotihuacán vor. Die königlichen Paläste und Tempel standen auf Hügeln, die noch immer von Dschungel umgeben waren. Strassen verliefen durch den Wald und verbanden die Gebäudekomplexe der Elite. Über sie gelangten die Bürger von ihren verstreuten Bauernhöfen zu den Märkten und Zeremonien der Innenstadt.
Speerwerfer-Eule erteilte die Befehle
Hohe Steinmonumente, eng beschrieben, dokumentieren Tikals Geschichte. Nur die Reichen und Mächtigen konnten diese Texte lesen: Die Geschichte der Maya wurde von Eliten für Eliten geschrieben. Im Jahr 2000 gelang dem Archäologen David Stuart von der Universität von Texas in Austin ein umfassendes Verständnis der Texte. Dank der Fortschritte bei der Entschlüsselung der Maya-Schrift konnte er die eingravierten Glyphen lesen; einschliesslich der Namen und Beziehungen von Sihyaj K’ahk’, Jaguartatze und Speerwerfer-Eule. Die historischen Aufzeichnungen werfen jedoch mehr Fragen auf als sie beantworten.
Eine besonders heisse Frage ist bis heute, für wen genau Sihyaj K’ahk’ gearbeitet hat. Er folgte offenbar den Befehlen von Speerwerfer-Eule, die auf den Denkmälern als ausländischer König beschrieben wird, der von 439 bis 374 v. Chr. ein entferntes Land regierte. Da die Schrift und das Porträt in dem für Teotihuacán typischen geometrischen Stil geschnitzt wurden, glaubt Stuart, Speerwerfer-Eule sei der König von Teotihuacán gewesen, möglicherweise genau zu der Zeit, als die Wandbilder am Platz der Säulen zerstört wurden.
Allerdings sind viele Archäologen davon überzeugt, dass es in Teotihuacán gar keinen König gegeben hat, schliesslich wurde dort noch nie ein königliches Grab oder die Darstellung eines Monarchen gefunden. Sie vermuten, dass die Stadt von einem Rat oder auf eine andere kooperative Weise regiert wurde. Ein weiteres Indiz für diese Annahme ist, dass die meisten Kunstwerke dort zwar die Kleidung und Ausrüstung der Menschen detailliert darstellen, aber nicht individuelle Gesichtszüge. Womöglich ein Hinweis darauf, dass Ämter wichtiger waren als Personen.
Bilder von Greifvögeln mit Atlatls – so wie in der Glyphe von Speerwerfer-Eule in Tikal – finden sich über Jahrhunderte in Teotihuacán. «Ich denke, die Glyphe steht für ein Amt, vielleicht eine militärische Rolle in Teotihuacán», sagt David Carballo, Archäologe an der Boston University. Viele Menschen könnten sie im Laufe der Zeit besetzt haben.
«Dieser Typ wird vom König der grössten Stadt geschickt.»
Er und andere Fachkollegen widersprechen der Vorstellung, dass die Inschriften in Tikal die Fundlage in Teotihuacán widerlegen. Vielleicht haben die Maya die Rolle von Speerwerfer-Eule einfach falsch verstanden, weil sie die Monarchie gewohnt waren, sagt Carballo. Womöglich haben Sihyaj K’ahk’ und die anderen Invasoren dieses Missverständnis sogar gewollt, sagt der Archäologe Michael Smith von der Arizona State University in Tempe. «Angenommen, du bist der Spindoktor für Sihyaj K’ahk’ und versuchst, diese Maya-Könige davon zu überzeugen, dass dieser Typ wirklich etwas ist. Was wirst du sagen? Dass er aus Teotihuacán stammt, wo die Leute sich selbst regieren? Oder wirst du sagen: Dieser Typ wird vom König der grössten Stadt geschickt, von der man jemals gehört hat?»
Wer auch immer Sihyaj K’ahk’ geschickt hat, Francisco Estrada-Belli von der Tulane University glaubt nicht, dass sich der Kriegsherr mit Tikal zufriedengegeben hat. So entdeckte der Archäologe in der Stadt Holmul, 35 Kilometer östlich von Tikal, Wandgemälde, die Teotihuacán-Krieger bei der Krönung eines neuen Herrschers zeigen. Die Bilder finden sich in einem Gebäude, das am ersten Jahrestag der Ankunft Sihyaj K’ahk’s in Tikal errichtet wurde. Die Aufzeichnungen deuten darauf hin, dass «Sihyaj K’ahk’ innerhalb weniger Jahre in einer Reihe wichtiger Maya-Städte ihm zugeneigte Könige installiert hat», sagt Estrada-Belli. «Es war ein Wendepunkt.»
Vorstellbar ist jedoch auch, dass Sihyaj K’ahk’ und Speerwerfer-Eule überhaupt nicht aus Teotihuacán stammten und sich einfach auf diese grossartige Stadt beriefen, um ein Maya-Publikum zu beeindrucken. Die Mythologie und Religion der Maya schätzte ausländische Güter sehr, und Teotihuacán war der angesehenste, weit entfernte Ort in Mesoamerika. Es gibt in der Geschichte viele Beispiele solcher kulturellen Aneignung. Chinesisches Porzellan war im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts ein Statussymbol, im 19. Jahrhundert sprachen die Russen der Oberschicht Französisch miteinander.

Teotihuacán dominierte mit Sicherheit Teile Zentralmexikos, sagt Archäologe Michael Smith. Im mexikanischen Bundesstaat Morelos, in Orten 85 Kilometer südlich der Stadt, fand er jede Menge Keramik und Obsidian im Teotihuacán-Stil. Aber weiter entfernt wurde das Reich zum Flickenteppich. Dort habe Teotihuacán nur noch strategisch wichtige Orte kontrolliert, sagt Claudia García-Des Lauriers, Archäologin an der California State Polytechnic University in Pomona. Sie hat in Los Horcones an der Küste des mexikanischen Bundesstaates Chiapas gegraben.
Die Hauptpyramide dort und der zentrale Platz sind kleinere Versionen von Teotihuacáns berühmter Mondpyramide, die Anlage wurde zwischen 600 bis 400 v. Chr. benutzt. Der Ort befindet sich an einem schmalen Gebirgspass, durch den eine Handelsroute führte. So konnte Teotihuacán die Warenströme von Kakao und Quetzalfedern kontrollieren.
Teotihuacáns Einfluss erstreckte sich bis zur Pazifikküste Guatemalas, mehr als 1000 Kilometer entfernt. Dort entdeckten Archäologen Haushaltsgegenstände im Teotihuacán-Stil, darunter Hunderte Räuchergefässe, die für häusliche religiöse Zeremonien verwendet wurden.
Zehntausende Wachtürme wurden entdeckt
Neue Hinweise auf die Ausdehnung des Teotihuacán-Reiches könnten Luftaufnahmen der Pacunam aus dem Jahre 2016 liefern. Damals hatten Forscher mehr als 2000 Quadratkilometer Fläche in Nordguatemala mittels Lidar erfasst, einer laserbasierten Fernerkundungstechnik. Sie enthüllte Zehntausende zuvor unbekannte archäologische Landmarken, darunter Festungsanlagen wie abgeflachte Hügel mit Wachtürmen. «Man bekommt den Eindruck einer streng bewachten Landschaft», sagt Stephen Houston von der Brown University. Im Mai werden an einigen der neuen Fundstätten Ausgrabungen beginnen, vielleicht klären sie die Frage, ob die Anlagen eine Reaktion der Maya auf eine Bedrohung durch Teotihuacán waren.
Gegen 550 n. Chr. zerfiel Teotihuacán, nach einem Aufstand der eigenen Bürger brannte die Innenstadt nieder. Aber noch Jahrhunderte später feierten Tikals Könige militärische Siege, bei denen sie sich als Teotihuacán-Krieger verkleideten. Was auch immer im Jahr 378 n. Chr. geschah, die Ereignisse hallten lange nach.

Dieser Beitrag ist im Original im Wissenschaftsmagazin «Science» erschienen, herausgegeben von der AAAS.
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