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Schweizer Autor mit neuem Roman
Aus seinen sieben Wochen im Corona-Koma hat Jonas Lüscher ein hinreissendes Buch gemacht

Ein nachdenklicher Mann mit Brille schaut durch ein Fenster, während er seinen Kopf auf die Hand stützt. Neben ihm steht eine kleine Tasse Kaffee.
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Man muss es nicht unbedingt wissen, aber man versteht diesen Roman besser, wenn man weiss, dass Jonas Lüscher sich im Frühjahr 2020 eine schwere Coronainfektion zuzog, die er um ein Haar nicht überlebte. Sieben Wochen lag er im Koma, am Leben gehalten nur durch den Einsatz aller Maschinen und technischer Hilfsmittel, die der modernen Medizin zur Verfügung stehen.

Dieses Erlebnis und das, was er in diesen Komawochen erlebte, in einer ganz eigenen Realität des Wachtraums, prägen diesen Roman auf unüberlesbare Weise. Allerdings muss man ihn bis zum Ende gelesen haben, um einigermassen zu begreifen, wie die Themen, Episoden und Motive mit dem Auslöser zusammenhängen. Das ganze Geheimnis der inneren Bezüge kennt wohl nur der Autor selbst.

Niemand, der Lüschers Novelle «Frühling der Barbaren» und seinen Roman «Kraft» kennt, wird von ihm ein Buch erwarten, das seinen Sinn quasi von selbst entfaltet. Was er jetzt in «Verzauberte Vorbestimmung» aufbietet, erfordert noch einiges Mehr an Einsatz von Lesermitarbeit und Interpretationsfantasie. Auch muss man – das wird einem heutzutage ja schon von Zeitungen nach und nach abgewöhnt – in der Lage sein, Satzperioden zu folgen, die mehrstöckigen Gebäuden gleichen.

Der Traumpalast eines französischen Briefträgers

In diesen wird viel Erzählstoff geboten. So hören wir von einem algerischen Tirailleur in der französischen Armee des Ersten Weltkriegs, der mitten in einem Gasangriff einfach aufhört zu kämpfen. Ein halbes Jahrhundert später reist der deutsche Dichter Peter Weiss (ein bisschen in Vergessenheit geraten, er schrieb den 1000-seitigen Roman-Essay «Die Ästhetik des Widerstands» und das Theater-Oratorium «Die Ermittlung») in ein Dorf in Südfrankreich, wo der Briefträger Ferdinand Cheval über viele Jahre Steine gesammelt und aus ihnen ganz allein seinen «palais idéal», einen Traumpalast, errichtet hat. Davon erzählt uns aber nicht der Autor, sondern eine Kellnerin einem anderen, einem algerischen Briefträger, die jenem Weiss einmal begegnet ist.

Das Idealpalast des Postboten Cheval in Hauterives, Frankreich, ein einzigartiges architektonisches Wunderwerk mit aufwendigen Verzierungen.

Demselben Weiss ist der Icherzähler, den wir hier mit dem Autor Jonas Lüscher durchaus gleichsetzen dürfen, nach seiner Genesung nachgereist zu Chevals Traumpalast. Und dann ins tschechische Varndorf, wo Weiss in den 1930er-Jahren mal gelebt hat; Lüscher gerät dort in eine Rebellion böhmischer Weber, die vor 200 Jahren stattgefunden hat.

Wie bitte? Ja, der Autor/Icherzähler kann sich in persona ebenso mühelos in die Vergangenheit beamen wie, später im vierten und fünften Teil des Romans, in die Zukunft. Die findet er in Ägypten, wo Präsident Sisi ja derzeit eine neue Hauptstadt in die Wüste stellt, die noch nicht fertig ist und zugleich schon wieder bröckelt. Lüscher irrt angewidert durch die Protzbauten (Afrikas höchster Wolkenkratzer, Opernhaus, olympisches Gelände …) und beobachtet ein kleines Mädchen, das er sich 30 Jahre später als erwachsene Frau vorstellt.

Ungefähr im Jahr 2055 also tritt diese Tari in einer Comedyshow in einer Kellerbar auf – während im nachputinschen Russland die Armee zerfallen ist und die Ostsee Warnemünde verschlungen hat. Die meisten Ägypter hungern sich durchs Leben, aber die, die es sich leisten können, lassen sich «anschliessen»: nämlich ihr Gehirn mit dem Weltwissen verknüpfen, was ihnen die Möglichkeit gibt, beim Tod dieses mitsamt Bewusstsein und Erinnerungen mit einem neuen Körper zu verbinden. Also ewig weiterzuleben.

Luftaufnahme des Opernhauses von Kairo, Ägypten, zeigt ein grosses, cremefarbenes Gebäude mit Kuppeln und umliegenden Grünflächen.

Nun kommt der Philosoph, der ja immer in Jonas Lüscher steckt, ins Spiel. Unsterblichkeit hat zur Folge eine gewisse Beliebigkeit allen Erlebens. «Nichts, was geschehe, keine Erfahrung, keine Begegnung könne wirklich von Bedeutung sein, solange sie ihr nicht mit dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit geschehe», begreift eine der «Angeschlossenen». Sie hat sich in eine Sterbliche verliebt, nämlich in Tari, das einstige kleine Mädchen, das Lüscher beobachtet und dessen Zukunft er imaginiert hat. Um ihrer Liebe Tiefe und Bedeutung zu verleihen, will die Angeschlossene ihre Festplatte und damit ihre Unsterblichkeit zerstören. Die Festplatte liegt in den Kavernen tief unten im Assuan-Staudamm.

Auch dahin folgt der Icherzähler seinen Figuren – 30 Jahre in der Zukunft, mithilfe seines Schattens oder seines «Ba», wie in der ägyptischen Mythologie die Frei-Seele heisst, die sich vom Ich trennen und frei herumfliegen kann. Lüscher – wir nennen ihn wieder so – ist diese Seele auf seiner Reise erschienen, ganz mythologisch-korrekt in Vogelgestalt mit Menschenkopf, und dieser Kopf trägt die Züge des Schriftstellers Peter Weiss. (Nun wissen wir endlich, warum der so eine Rolle spielt in den ersten Kapiteln des Romans!)

Er lebte wochenlang als eine Art Mensch-Maschine

Was hält diese Reisen, diese Themen, dieses Schweifen in Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft zusammen? Nicht nur, dass der Autor aus dem Stoff seiner Komaträume und Traumata schöpft. Es ist auch der Komplex Technik mit seiner Dialektik aus dem Fortschritt, den er bringt, und den Opfern, die dieser Fortschritt kostet.

Jonas Lüscher spielt das breit am Beispiel der historischen Weber-Aufstände durch. Die legendäre Gestalt des Ned Ludd taucht auf, der im 18. Jahrhundert in England Strickrahmen zerschlagen haben soll. Die böhmischen Weber in Varndorf berufen sich auf ihn. In einem nächtlichen Gespräch lässt der Autor den Stolz eines Handwerkers auf den des Erfinders einer Maschine prallen, die Ersteren überflüssig macht. Und das Gesicht der Welt verändert.

«Warum trage ich so gern diese Technikskepsis vor mir her?», fragt sich der Autor an einer Stelle. «Ausgerechnet ich, der ich doch der Technik und deren Entwicklungen deutlich mein Leben zu verdanken hatte.» Indem er, ins überlebensnotwendige Koma versetzt, wochenlang als eine Art Mensch-Maschine gelebt hatte.

«Zu viel Denken, zu wenig Leben?» – das dann doch nicht

Von dort bis zu den Zukunftsvisionen der an alles Datenwissen der Welt «Angeschlossenen» mit unendlichen Überlebenschancen ist es nur ein Schritt. Und wer einen Schritt aus dem Roman in die Aktualität tun möchte, findet in «Stargate», den milliardenschweren KI-Plänen der neuen US-Regierung, genug Nahrung.

Der Stolz des Handwerkers und der Stolz des Erfinders – sie finden auch in «Verzauberte Vorbestimmung» ihren ästhetischen Niederschlag. Die Konstruktion des Romans ist innovativ, die Ausführung von manchmal altmeisterlicher Kunstfertigkeit (auch wenn nicht jede Ausführlichkeit einleuchtet – aber vielleicht hat da auch der Beschreibungsfanatiker Peter Weiss von fern Pate gestanden).

«Zu viel Denken, zu wenig Leben» bescheinigt der Autor sich einmal selbst; dem möchte man doch widersprechen. Klar, heftig mitdenken muss und sollte man schon. Aber dafür wird man belohnt mit Passagen, in denen sich Lüscher als der hinreissende Erzähler erweist, der er eben auch ist. Etwa in der überaus spannenden Episode des Streiks der Weber in Varndorf, der im Brand des Lagers eskaliert.

Oder ganz am Ende, als Lüscher einen Komatraum vergegenwärtigt, in dem er mit einem Kollegen einen komplizierten Doppelselbstmord inszeniert, nach dem aus seinem zerfetzten Körper 36 Kügelchen kullern, aus denen in einem japanischen Labor ein neuer Lüscher rekonstruiert wird, der über das Kabel einer alten Waschmaschine (!) mit der Welt vernetzt alle Gestalten annehmen, sich mit allem verbinden kann.

«Ich … wurde das Wasser des Flusses, die Blätter der Bäume, der Asphalt der Strassen, wurde die Erde, der Himmel, wurde Planeten und Sterne, das Sonnensystem, war ganze Galaxien, bis auch die Materie keine Rolle mehr spielte und ich nur noch Erleben war, Sehen, Hören, Riechen, Spüren» – ein Drogentrip, auch der Sprache. (Aus einem weiteren Kügelchen wird übrigens eine traurige Japanerin rekonstruiert, die als Lüscher-Klon irgendwo lebt und die er gern aufsuchen will, «um uns zu retten».)

«Verzauberte Vorbestimmung» ist ein Abenteuer der Lektüre. Ein Roman wie eine Wunderkammer. In der mag, in der darf jeder Leser, jede Leserin sich selbst zurechtfinden.

Jonas Lüscher: Verzauberte Vorbestimmung. Roman. Hanser, München 2025. 348 S., ca. 36 Fr.