Putin riskiert die EskalationDer Kreml wappnet sich gegen wütende Bürger
Truppen marschieren in Moskau auf, um weitere Proteste nach dem Urteil gegen Alexei Nawalny zu verhindern.
Wladimir Putins betonte Gelassenheit wirkt auffällig, dem Oppositionellen droht weiteres Ungemach.
Kurz vor dem Urteilsspruch sperrten sie die Innenstadt ab. Sondereinsatzkräfte in Heeresstärke stellten sich vor dem Kreml auf. Polizei, Nationalgarde und Omon-Spezialkräfte wappneten sich für den Protest, denn Alexei Nawalny wurde zu mehr als zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Die Bilder, die folgten, wirkten dystopisch. Einsatzkräfte strömen in mehrreihigen Kolonnen durch Unterführungen und Fussgängerzonen. Videos im Internet zeigen diese grosse Masse schwarz uniformierter Männer mit schweren Helmen und Masken unter der Weihnachtsbeleuchtung des Moskauer Zentrums.
Dabei fielen die Proteste deutlich kleiner aus als am Sonntag, es kamen ein paar Tausend Menschen. Sie schienen besonders entschlossen zu sein, liefen über die Strasse, liefen vor der Polizei davon, blockierten den Verkehr und riefen «Moskau, komm raus» und «Russland ohne Putin». Autos hupten dazu im Rhythmus. Die Einsatzkräfte hatten anfangs Schwierigkeiten, hinterherzukommen. Später kesselten sie kleine Gruppen Protestierender ein, nahmen allein in Moskau knapp 1200 Menschen fest, in Sankt Petersburg etwa 250.
Gegenanschuldigungen Richtung Westen
Eines der eindrücklichsten Bilder des Abends: Eine Menschengruppe steht an eine Hauswand gedrückt, die Hände erhoben. «Wir haben keine Waffen», rufen manche. Einige Einsatzkräfte schlagen dennoch zu. Der Kreml hat es aufgegeben, behutsam vorzugehen, wenn es um den Oppositionellen Alexei Nawalny geht. Putin riskiert die Eskalation. Seine betonte Gelassenheit wirkt eher auffällig als überzeugend: «Nein, Wladimir Putin verfolgt den Verlauf dieses Prozesses nicht», sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Nein, der Präsident kommentiere das Urteil nicht, sagte er am Mittwoch. Und Nawalnys Rede habe Putin auch nicht verfolgt.
Nawalny hatte vor Gericht gesagt, egal wie sehr sich Putin «als grosser Geopolitiker, als grosser Weltanführer» darstelle, er werde doch als «Unterhosengiftmörder» in die Geschichte eingehen. Der Oppositionelle beschuldigt den Präsidenten, hinter dem Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok zu stehen, den Nawalny im August überlebte. Der Präsident habe genug zu tun, viele Probleme zu lösen, sagte Peskow nun. «Verstehen Sie, es wäre wahrscheinlich dumm, wenn er stattdessen irgendwelche Reden von Verurteilten anhörte. Oder über einen Platz in der Geschichte nachdächte.»
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Sicher wird der Kreml über die Folgen des Urteils nachdenken. Kremlsprecher und Aussenministerium hatten schon vorsorglich eine Kaskade an Warnungen und Gegenanschuldigungen Richtung Westen geschickt, bevor die Gerichtsentscheidung fiel. Er hoffe, dass die Beziehungen zwischen der EU und Russland nicht «von diesem Häftling» abhingen, sagte Peskow am Dienstag, «das wäre dumm». Am Donnerstag wird der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell in Moskau erwartet, er möchte das Urteil gegen Alexei Nawalny ansprechen.
Lawrows Verschwörungstheorie
Aussenminister Sergei Lawrow sagte erneut, es gebe «allen Grund zu dem Verdacht», dass die Vergiftung Nawalnys «inszeniert» gewesen sei. Er begründete das damit, dass Moskau immer noch keine Ermittlungsergebnisse aus Deutschland erhalten habe, die die Anschuldigungen gegen die russische Regierung rechtfertigten. Vier Rechtshilfeersuche Russlands haben die deutschen Behörden allerdings bereits beantwortet. Nawalnys Verteidiger haben angekündigt, in Berufung zu gehen. Ihren Mandaten erwarten mindestens drei weitere Gerichtsprozesse, den ersten bereits am Freitag: Nawalny soll angeblich einen Weltkriegsveteranen beleidigt haben. Der Mann hatte in einem TV-Spot für Putins Verfassungsreform geworben, Nawalny nannte ihn «käuflich». Ausserdem klagt der Geschäftsmann und Putin-Vertraute Jewgeni Prigoschin wegen Rufschädigung gegen Nawalny, der Prozess wird Mitte Februar erwartet. Drittens haben die Behörden Ende Dezember ein weiteres Verfahren wegen Betrugs gegen Nawalny eingeleitet.
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