Corona-Massnahmen in Manchester Der «König des Nordens» fordert Johnson heraus
Manchesters Bürgermeister Andy Burnham verlangt mehr Regierungshilfe, um «einen Winter schwerer Not und Entbehrungen» in Nordengland zu verhindern. Sein Widerstand macht Schule.
Mit wachsender Sorge verfolgen die Briten die erneute Ausbreitung des Coronavirus in ihrem Land. Mitte Woche haben sie mit mehr als 26’000 Neuinfektionen erstmals die Franzosen eingeholt. Britische Experten sagen «Zehntausende Tote» für diesen Winter voraus. Deshalb sollen in den am schwersten betroffenen Gebieten Englands neue Restriktionen eingeführt werden.
Diese Corona-Hochburgen befinden sich wie schon im Frühling überwiegend in den grossen Städten im Norden des Landes, wo man nicht gut auf London zu sprechen ist. Die Hilfsmassnahmen der Regierung werden als ungenügend betrachtet – die Ressentiments gegen «den Süden» wachsen rasch.
Zuweisung begrenzter Mittel durch die Zentralregierung
Zum Sprecher des allgemeinen Unmuts hat sich dabei der Bürgermeister des Grossraums Manchester gemacht, Andy Burnham. Der Labour-Politiker, der selbst einmal britischer Gesundheitsminister war, stemmt sich keineswegs gegen harte Massnahmen im Kampf gegen die Pandemie. Doch wer glaube, dass man «Lockdown auf die billige Tour» betreiben könne, täusche sich. Premier Boris Johnson könne nicht einfach die Augen verschliessen vor den Konsequenzen drastischer Massnahmen: «Hier geht es um Leute, deren Unternehmen an einem seidenen Faden hängen. Und um Menschen, die buchstäblich über Nacht in tiefe Armut gestossen werden.»
Kritik ausgelöst hat vor allem der Beschluss von Schatzkanzler Rishi Sunak, zum Ende des Monats das bisherige landesweite Subventionssystem zu beenden. Alle «Risikogebiete» des Landes, in denen die schärfsten Restriktionen gelten, werden zur separaten Aushandlung von Extra-Hilfe aufgefordert. Dabei hat man in London freilich weniger an Verhandlungen gedacht als an die Zuweisung begrenzter Mittel durch die Zentralregierung.
Wer glaube, dass man den «Lockdown auf die billige Tour» betreiben könne, täusche sich, sagt Burnham.
Städte wie Liverpool oder Sheffield haben sich dieser Verfügung resigniert gebeugt. Im stolzen Manchester aber, der alten Hochburg der Fabrikanten und der Kaufleute des Nordens, will man sich nicht mit einem Notstand «ohne ausreichende Unterstützung» abfinden. Zusammen mit zehn Gemeinderatsvorsitzenden, darunter einem konservativen, bietet Bürgermeister Burnham der Regierung die Stirn und fordert wesentlich mehr an Beistand, als Sunak für Manchester eingeplant hatte.
Bei einfachen Bürgern wie bei Geschäftsleuten hat ihm das viel spontane Sympathie eingebracht. Begeisterte Anhänger kürten ihn gar, inspiriert von der TV-Serie «Game of Thrones», zum «King of the North», zum Wächter über das Wohl der Seinen. Seine politischen Gegner wiederum sehen in ihm nun einen ernsten Widersacher. Offenbar habe Burnham die Gelegenheit beim Schopf gepackt, sich als «Schutzherr der Vergessenen» aufzuspielen, giftete ein Kolumnist der konservativen «Times» in London. In Wirklichkeit habe er wohl eine Chance gesehen, sich bei seiner alten Partei «neu in Szene zu setzen».
Zweifellos war es um Burnham, der unter Labour-Premier Gordon Brown erst das Kultur- und dann das Gesundheitsressort leitete, etwas still geworden, nachdem 2010 die Konservativen an die Regierung kamen. Zweimal kandidierte der ursprünglich aus Liverpool stammende Politiker, der der linken Mitte zugezählt wird, um den Parteivorsitz: beide Male ohne Erfolg. Seine Wahl zum Bürgermeister von Gross-Manchester vor drei Jahren machte es ihm letztlich möglich, Westminster den Rücken zu kehren.
Heute ist der 50-Jährige der bekannteste Regionalpolitiker im ganzen Königreich. Vor allem hat der selbstbewusste «Northerner», Zögling einer katholischen Schule und Cambridge-Absolvent, es sich zur Aufgabe gemacht, seinem Teil des Landes mehr Gehör zu verschaffen. Schon in seiner Antrittsrede als Bürgermeister klagte er, britische Politik sei zu lange auf London fixiert gewesen. «Das müssen wir ändern.»
Johnson zeigt Burnham die kalte Schulter
Im Ringen um finanzielle Hilfe für Manchester während der neuen Phase der Corona-Krise hat Burnham eine Mission gefunden, die dieser Idee entsprach. Vor allem müsse man jetzt in Manchester mit allen Mitteln «einen Winter schwerer Not und Entbehrungen verhindern», erklärte er – und forderte an Soforthilfe fast 6 Millionen Franken mehr, als die Regierung zu geben bereit war.
Als er von dieser Forderung nicht abrückte, beendete Boris Johnson die Verhandlungen und verhängte die neuen Restriktionen ganz ohne Vereinbarung. Kurzfristig sah es sogar so aus, als wolle London Manchester zur Strafe für die Unbotmässigkeit alle Gelder streichen. Burnham beschuldigte die Regierung, Not leidende Menschen im Norden ihrem Schicksal zu überlassen.
Die Zahl der Schotten, die die Unabhängigkeit fordern, hat eine neue Rekordhöhe erreicht.
Und der Widerstand macht Schule, auch andere Regionen fordern die britische Regierung inzwischen heraus: In Wales ist just ein weitreichender zweiwöchiger Lockdown beschlossen worden, mit Start an diesem Freitag. Und in Nordirland sucht man den Anschluss an die Irische Republik nicht zu verlieren, die gerade einen sechswöchigen Lockdown beschlossen hat, wohl den härtesten in ganz Europa.
Eigene Wege geht auch Schottland, wo sich viele von Westminster zunehmend «abgeschrieben» fühlen: Die Zahl der Schotten, die laut einer Meinungsumfrage volle Selbstbestimmung und nationale Unabhängigkeit fordern, hat eine neue Rekordhöhe erreicht und liegt bei 58 Prozent.
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