Leben mit dem Down-Syndrom«Der beste Bruder der Welt»
Eine Familie erzählt, wie sie sich bewusst für ihr besonderes Kind entschieden hat. Und wie es ihr Leben bereichert.
Luca ist noch etwas schläfrig. Eben ist der 5-Jährige von einem Nachmittagsnickerchen aufgewacht. Der Kindergarten hat ihn angestrengt. Nun schmiegt er sich an seine Mutter und verbirgt sein Gesicht an ihrem Hals. Doch langsam, aber sicher kehren die Lebensgeister zurück. Luca rutscht vom Schoss seiner Mutter herunter und holt das Rollbrett aus seinem Zimmer. Bald tollt der 5-Jährige mit seinem älteren Bruder Matteo im Wohnzimmer herum. Die beiden spielen Lego, und Luca darf auf dem Rücken seines Bruders reiten.
Luca hat das Downsyndrom. Die Krankheit ist nach dem englischen Arzt John L.D. Down benannt, der sie im 19. Jahrhundert beschrieben hat. Häufig wird auch von Trisomie 21 gesprochen, weil bei Betroffenen das 21. Chromosom in den Zellen dreifach statt doppelt vorhanden ist. Das Syndrom geht mit einer geistigen Behinderung und häufig auch körperlichen Komplikationen einher.
Das Risiko für ein Kind mit Trisomie 21 steigt mit zunehmendem Alter der Mutter dramatisch an. Liegt es bei einer 20-Jährigen noch bei 1:1000, trägt bei den 35-Jährigen bereits eine von 500 Frauen einen Fötus mit Downsyndrom in sich. Bei den 40-Jährigen ist es jede 100. und bei den 45-Jährigen sogar jede 27. Frau. Weil viele Frauen heutzutage erst spät Mutter werden, müsste die Anzahl Kinder mit Downsyndrom eigentlich stark zunehmen. Doch das Umgekehrte ist der Fall. Dies lässt darauf schliessen, dass der Grossteil dieser Föten abgetrieben wird. Einzelne Ärzte beobachten trotz besserer diagnostischer Möglichkeiten in den letzten Jahren aber auch wieder einen leicht ansteigenden Trend. Genaue Zahlen gibt es jedoch nicht.
Zahlreiche Risiken
Jacqueline Tambasco war bereits 41 Jahre alt, als sie mit Luca schwanger wurde. «Wir hätten gern früher Kinder gehabt, aber es hat nicht geklappt», sagt die Frau aus dem zürcherischen Oberhasli. In der 20. Woche war die Diagnose definitiv. Abtreiben war aber keine Option. «Luca hatte ein so herziges Gesichtchen auf dem Ultraschallbild», erinnert sich seine Mutter. Sie war zuversichtlich, dass es gut kommen würde. Etwas schwerer tat sich ihr Mann mit der Entscheidung: Seine Schwester war ebenfalls von Trisomie 21 betroffen und verstarb Anfang 90er-Jahre an einem schweren Herzfehler. «Man hat mir erklärt, dass die medizinischen Möglichkeiten heute viel besser sind», sagt Pietrangelo Tambasco. So konnte er sich allmählich mit dem Gedanken an ein Kind mit Downsyndrom anfreunden.
An einem Herzfehler leiden rund 50 Prozent der betroffenen Kinder. Heute kann dieser meist bereits im Säuglingsalter mit einer Operation behoben werden. «Doch der Eingriff ist beschwerlich, sowohl für das Kind als auch die Eltern», sagt Robert Steinfeld, Leiter der Neurologie am Universitäts-Kinderspital Zürich. Je nach Schwere des Herzfehlers und anderer Begleitkrankheiten sei auch die Lebenserwartung von Menschen mit Trisomie 21 eingeschränkt.
Gehäuft treten zudem Infektionen der Atemwege auf, weil das Immunsystem weniger effizient arbeitet. Zudem kann es zu verminderter nächtlicher Sauerstoffzufuhr (Schlaf-Apnoe) kommen wegen des tieferen Muskeltonus sowie zu Autoimmunerkrankungen wie etwa Zöliakie oder Diabetes. Psychische Probleme würden ebenfalls vermehrt festgestellt, weiss Steinfeld. Typisch sind zum Beispiel Hyperaktivität, Autismus, Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen sowie ein erhöhtes Demenzrisiko im Alter. Dennoch sind Menschen mit Downsyndrom häufig auch besonders zufriedene Menschen und können andere mit ihrer Fröhlichkeit anstecken.
Das Spektrum der geistigen Fähigkeiten ist relativ breit. Die meisten Menschen mit Downsyndrom benötigen ein Leben lang Unterstützung und arbeiten im geschützten Arbeitsmarkt. Doch es gibt auch einige, die es zu einer selbstständigen Lebensführung schaffen und eine durchschnittliche Intelligenz aufweisen – besonders bei der sogenannten Mosaik-Trisomie, bei der das dreifache Chromosom nicht in allen Körperzellen vorhanden ist. Dies ist bei rund 2 Prozent der Betroffenen der Fall. Ausschlaggebend für einen günstigen Verlauf sei eine gute frühkindliche Förderung, erklärt Neurologe Robert Steinfeld.
Als Kleinkind häufig krank
Luca sei ein sehr zufriedenes Baby gewesen, erzählt Jacqueline Tambasco. «Er hat viel gelächelt und war pflegeleichter als sein älterer Bruder.» Doch als Kleinkind war er viel krank. Sein Herz und die anderen Organe sind zwar gesund, aber er erwischte immer wieder Atemwegsinfekte und sogar so schlimme Lungenentzündungen, dass er Sauerstoff benötigte. Einmal war er wegen einer Atemwegserkrankung für vier Monate im Kinderspital. Das war eine sehr strenge Zeit für alle. Die Eltern wechselten sich im Spital ab und versuchten neben der Arbeit gleichzeitig ihrem zweiten Kind gerecht zu werden.
«Unser besonderer Sohn hat unseren Horizont erweitert. Das Leben mit Downsyndrom ist definitiv lebenswert und kann glücklich sein.»
Die Entwicklung des kleineren Sohnes verlief langsamer als bei Matteo. Erst mit 3 Jahren lernte Luca laufen, was wohl auch damit zu tun hatte, dass er wegen der dauernden Krankheiten geschwächt war. Er trägt noch immer Windeln, doch die Eltern sind zuversichtlich, dass er diese bald nicht mehr brauchen wird. Unterdessen spricht er einzelne Wörter. Und seit etwa einem Jahr ist Luca nun ziemlich gesund. Im Sommer konnte er in den normalen Kindergarten eintreten. Eine Klassenassistentin ist an vier Wochentagen für ihn zuständig, zusätzlich erhält er Unterstützung von einer Heilpädagogin und einer Logopädin.
Heute tröstet er seine «Gspändli»
«Luca ist in der Klasse voll integriert», freut sich die Mutter. Feinmotorisch sei er zwar noch nicht so weit wie die anderen. Dafür zeige er ausgezeichnete soziale Kompetenzen. Zum Beispiel habe er zu Beginn des Schuljahres ein Mädchen getröstet, das Heimweh hatte und weinte. Die Familie trifft sich regelmässig mit anderen Familien, die Kinder mit Trisomie 21 haben, zum Austausch und zu gemeinsamen Aktivitäten. So seien gute Freundschaften entstanden, sagt Jacqueline Tambasco. «Unser besonderer Sohn hat unseren Horizont erweitert. Das Leben mit Downsyndrom ist definitiv lebenswert und kann glücklich sein», stellt die Mutter fest. Sie habe das Gefühl, dass Luca seinen Weg machen werde. Für den 9-jährigen Matteo jedenfalls steht fest: «Luca ist der beste Bruder der Welt.»
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