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Meinung

Kolumne «Fast verliebt»
Wege aus der eigenen Anspruchsdepression

Plädiert für mehr Dankbarkeit: Autorin Claudia Schumacher.
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Erwachen Sie morgens mit dem unguten Gefühl, betrogen worden zu sein, und gehen abends mit der Gewissheit zu Bett, heute erneut zu kurz gekommen zu sein? Nein? Dann gehören Sie zur vulnerablen Gruppe: Zufriedene Menschen sind eine zunehmend bedrohte Minderheit. Schon wegen der anderen, die am Kaffeeautomaten seufzen, sich im Warteraum beim Arzt ärgern oder an der Supermarktkasse drängeln. Sie haben hohe Ansprüche an alles und jeden – aber sie werden nicht erfüllt! Das daraus folgende Elend bezeichne ich gerne als Anspruchsdepression. Leidtragende erkennt man an der beleidigten Schnute.

Eine meiner Freundinnen ist mit einem Anspruchsdepressiven verheiratet. Auf der Arbeit steckt er im mittleren Management fest, seinen hochtrabenden Träumen zum Trotz. Es kann nicht daran liegen, dass andere besser sind als er oder dass er nie genug Biss hatte, nein: Sein Chef ist ein Riesenidiot. Ausserdem sind die Betreuerinnen seiner Töchter einfallslos. Auch der Ton, den dieser Mann seiner Frau gegenüber anschlägt, wird stets vom Timbre des Vorwurfs begleitet. Er ist klimabewusst, und es nervt ihn, dass sie nicht häufiger in Unverpackt-Läden einkauft. Dass er sich selber um den Einkauf kümmern und den Extrazeitaufwand für Unverpackt-Läden aufbringen könnte: Darauf kommt er nicht.

Liegt es daran, dass ich älter werde und um mich herum viele in die Mittlebenskrise schlittern – oder wird der Mittelstand tatsächlich immer unzufriedener? Die politischen Entwicklungen im Westen sprechen dafür. Die beliebten populistischen Parteien am rechten und linken Rand leben schliesslich von mieser Laune.

So viele Berufsstände jammern: Ärzte, Journalistinnen, Künstler, Handwerker. Im Westen wachsen die Ansprüche, die Arbeitsbereitschaft sinkt messbar, der Frust ist immens. Aber der Glaube, dass alles immer schlechter wird, ist bezeichnend für Menschen, denen es immer noch gut geht. Alle anderen haben längst die Ärmel hochgekrempelt und keine Zeit zum Jammern.

Eine meiner Freundinnen, eine Seconda mit Arbeitereltern, hat gerade einen schreienden Säugling, Schlafmangel, Rückenschmerzen und dazu einen Vater, der schwer krank ist. Telefonieren wir, jammert sie nicht. Auf Nachfrage erzählt sie, was los ist. Aber dann lässt sie los, schwärmt vom neuen Beyoncé-Album oder scherzt über Calvin-Klein-Unterwäsche. Egal, wie schwer und traurig das Leben gerade ist: Sie bewahrt sich immer etwas Leichtigkeit im Herzen. Gerade steht sie sehr oft mit der Familie am Krankenbett. «Wir sind dankbar für die Zeit, die wir miteinander haben», sagt sie dazu.

Ein dankbares Herz ergibt sich nicht dann, wenn das Leben endlich fair ist. Denn das wird es nie sein. Es ist umgekehrt: Dankbarkeit schützt vor Anspruchsdepressionen und hilft, das Leben als Geschenk zu begreifen – trotzdem.