«Verstoss gegen Verfassung»Staatsrechtler kritisiert Bern wegen Demoverbot
Volle Agenda und «angespannte Stimmung»: Im Zentrum der Bundesstadt sind bis Weihnachten grössere Kundgebungen untersagt. Das sorgt für Kritik.
Der Berner Gemeinderat macht ernst: Er will vom 17. November bis und mit 24. Dezember in der Innenstadt keine Grosskundgebungen und Umzüge mehr zulassen. Dies teilte er am Mittwoch mit. Kleinere Kundgebungen, beispielsweise Mahnwachen, könnten im Zentrum von Bern nach wie vor bewilligt werden. Auch auf dem restlichen Stadtgebiet seien Demonstrationen möglich. Als Beispiel nennt die Stadt den Rosalia-Wenger-Platz in der Wankdorf-City.
Berns Sicherheitsdirektor Reto Nause (Mitte) rechtfertigt den politisch restriktiven Schritt mit anstehenden Veranstaltungen und Grossanlässen, welche jeweils ein grosses Polizeiaufgebot erfordern. Er nennt den Besuch des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und das Hochrisikospiel YB gegen Roter Stern Belgrad. Dazu kämen der Zibelemärit, das Lichtspiel auf dem Bundesplatz und die Weihnachtsmärkte.
«Ich erachte die Massnahme verfassungsrechtlich vor allem deshalb als problematisch, weil sie undifferenziert ist und relativ lange andauert.»
Nause räumt ein, dass auch die «angespannte Stimmung» an den vergangenen Palästina-Demos eine Rolle bei der Entscheidung gespielt hat. Zuvor hatte der kantonale Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP) zum Verzicht auf Palästina-Kundgebungen aufgerufen. Die Wahrscheinlichkeit von Gewalt bei einer nächsten Demo sei gross, sagte er im Interview mit dieser Zeitung.
Kritik am Pauschalverbot
Bereits Ende letzten Monats hatten die Städte Bern, Basel und Zürich kurzzeitige Demoverbote erlassen. Diverse Staatsrechtler sprachen daraufhin von einem massiven Eingriff in die Versammlungsfreiheit. So ist es wenig überraschend, dass auch das jetzige Verbot von Grosskundgebungen für Kritik sorgt. «Ich erachte die Massnahme verfassungsrechtlich vor allem deshalb als problematisch, weil sie undifferenziert ist und relativ lange andauert», sagt Markus Müller, Professor für Staatsrecht an der Universität Bern. «Ein derart pauschales Kundgebungsverbot widerspricht meiner Meinung nach der Kantonsverfassung.»
Er bezieht sich auf Artikel 19, der sich der Versammlungsfreiheit widmet. Dort ist festgehalten: «Kundgebungen auf öffentlichem Grund [...] sind zu gestatten, wenn ein geordneter Ablauf gesichert und die Beeinträchtigung der anderen Benutzerinnen und Benutzer zumutbar erscheint.» Das bedeute, so Müller, dass die Stadt als Bewilligungsbehörde jedes Kundgebungsgesuch einzeln prüfen müsse. Ziehe sie in Betracht, das Gesuch abzulehnen, müsse die Stadt zudem plausibel machen, wieso ein gesicherter Ablauf nicht möglich erscheint.
Dass die Stadt Bern darauf verweist, dass ausserhalb der Innenstadt Demonstrationen weiterhin möglich seien, ändert für den Berner Staatsrechtler wenig: «Kundgebungen zielen auf eine möglichst breite Wahrnehmung. Diese wird massiv geschwächt, wenn der Protest in die Peripherie verlegt wird.»
Dass die Stadt kommerzielle Anlässe wie Fussballspiele und Weihnachtsmärkte ins Feld führt, um die Versammlungsfreiheit derart massiv einzuschränken, erachtet Müller aus staatsrechtlicher Sicht «als problematische Gewichtung». Gerade der Krieg im Nahen Osten sei derzeit ein drängendes Thema, das viele Menschen bewege und auf die Strasse treibe. «So etwas muss die Allgemeinheit hinnehmen.»
«Es gibt in der Verfassung nirgends das Recht dazu, für dasselbe Anliegen einmal pro Woche auf die Strasse zu gehen.»
Das müsse aber nicht zwingend bedeuten, dass ein Weihnachtsmärit aufgrund einer Demonstration schliessen müsse. «Es gäbe sicher mildere Mittel als ein pauschales Kundgebungsverbot, damit beides nebeneinander Platz hat», so Müller.
Kritik lässt Nause kalt
Was sagt Reto Nause zur Kritik des Staatsrechtlers an der Beschneidung der Meinungsäusserungsfreiheit? «Dieser Einwand zielt ins Leere und lässt mich ehrlich gesagt etwas kalt», lautet seine Antwort. «Wir hatten in den vergangenen Wochen drei grosse Palästina-Demos und zwei jüdische Mahnwachen. Eine Meinungsäusserung hat somit ganz klar stattgefunden.» Weiter meint der Sicherheitsdirektor: «Es gibt in der Verfassung nirgends das Recht dazu, für dasselbe Anliegen einmal pro Woche auf die Strasse zu gehen.»
Doch was passiert, wenn trotz Verbot demonstriert wird? Wird die Polizei die Veranstaltung auflösen und die Teilnehmenden büssen? Nause entzieht sich einer klaren Antwort. «Darüber will ich nicht spekulieren», sagt er lediglich.
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