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Meinung

Analyse zur römischen Kirche
Nie war die Kluft zur Gesellschaft grösser

Papst Franziskus mit Kardinälen und Bischöfen bei einer Veranstaltung zum Schutz von Minderjährigen, die 2019 im Vatikan stattgefunden hat.
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Die Kirche im Dorf überragt als Mittelpunkt der Gemeinschaft alle anderen Gebäude. Ein Sinnbild, in der säkularen Gesellschaft alles andere als selbstverständlich. Dennoch sind die Münster in Bern, Basel oder Zürich Wahrzeichen der Stadt geblieben. Sie verleihen ihr eine transzendente Dimension. Das Zürcher Grossmünster, Mutterkirche der Reformation, hat tief in die Zürcher Gesellschaft hineingewirkt – und ist bis heute mit deren Werten kompatibel geblieben. Für die Pfarrerschaft ist das Bekenntnis zu Staat und Gesellschaft konstitutiv. Unlängst mahnte der oberste Schweizer Protestant Gottfried Locher die Gläubigen, es stehe der Kirche gut an, den gesellschaftlichen Konsens ernst zu nehmen. Er sagte dies mit Blick auf die Ehe für alle: «Wir haben das bewährte System, dass der Staat die Ehe definiert, die wir reformierterseits mit dem Segen Gottes ausstatten.»

Auch die Churer und die Freiburger Kathedrale stehen als Hauptkirchen ihres Bistums mitten in der Stadt. Doch das Stadtbild suggeriert ein Sinnbild in Schieflage. Die Kathedrale als Thron der bischöflichen Macht verkörpert nicht mehr die Mitte der Gesellschaft. Nicht nur, weil der Westschweizer Bischof Charles Morerod den Priester der Kathedrale St. Nicolas wegen Missbrauchsvorwürfen entlassen musste. Sondern auch, weil die Bischofskirche dem gesellschaftlichen Konsens widerspricht. Anders als für den zurückgetretenen Churer Bischof Vitus Huonder ist für Morerod Homosexualität zwar kein todeswürdiges Vergehen. Die Ehe für alle aber wertet er ganz in Einklang mit Papst Franziskus: Diese habe mit der göttlich gestifteten Ehe von Mann und Frau keine Analogien, sie stehe vielmehr für einen «ideologischen Weltkrieg, um die Ehe zu zerstören».

Gegenbewegung zum Zeitgeist

Die Ehe für alle ist nur der jüngste Kulturkampf, der die römische Kirche von der hiesigen Gesellschaft entfremdet. Zuvor schon hat sie einen nach dem anderen verloren: den Kulturkampf um die Fristenregelung, jenen um die Reproduktionsmedizin oder jenen um die Sterbehilfe. Es sind für die Kirche die wesentlichen Bereiche Familie, Sexualität und Sterben, in denen sie bisher die Deutungshoheit beanspruchte. In kürzester Zeit ist ihre Definitionsmacht über Leben und Tod weggebrochen. Sie positioniert sich im Widerspruch zur Gesellschaft.

Kardinal Joseph Ratzinger versuchte noch diesen Widerspruch zu adeln: Mit dem Bedeutungsverlust des Christlichen in der Gesellschaft werde die römische Kirche als Minderheitskirche «im Gegenwind der Geschichte stehen», prophezeite er in seinem berühmten Buch «Salz der Erde» von 1996. Er fand sogar Gefallen an Pasolinis Idee der kirchlichen Opposition, insofern die Kirche modern sein könne, indem sie antimodern sei. In «kleinen Kreisen von wirklich Überzeugten» werde sie als Gegenbewegung zum Zeitgeist das Salz der Erde sein.

Die Realität sieht anders aus. Die Rolle der Kirche im Gegenwind zur Gesellschaft bindet fast all ihre produktiven Kräfte und wirft sie auf sich selber zurück. Dank der Exklusivmoral des priesterlichen Sexualverzichts muss sie massenhaft klerikalen Missbrauch eindämmen. Von manchen Hirten wie dem Freiburger Bischof Charles Morerod hört man nur im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen, die er, je nach Sichtweise, zu bewältigen oder zu vertuschen versucht.

Credo des Churer Weihbischofs Marian Eleganti: Wer glaubt, kann sich über Hostien und Weihwasserbecken nicht infizieren.

Die Churer Bistumsleitung ist demgegenüber im Kampf um die reine Lehre ganz von der Abwehr demokratischer Mitbestimmung durch die Kantonalkirchen absorbiert. Da haben Projekte für Flüchtlinge und Benachteiligte keinen Platz. Dafür artikuliert sich im Bistum Chur Widerstand gegen die staatlichen Corona-Massnahmen. Das Credo des Churer Weihbischofs Marian Eleganti: Wer glaubt, kann sich über Hostien und Weihwasserbecken nicht infizieren.

Kluft zwischen Kirche und Gesellschaft

Viele wollen nicht wahrhaben, dass die Kirche von oben her gelähmt ist. Schliesslich vermittelt Papst Franziskus das Bild eines Hirten, der sich für die Armen und soziale Gerechtigkeit einsetzt. Wie seine Vorgänger löst er sein Engagement für die Menschenrechte in den eigenen Reihen nicht ein. Die den Frauen verwehrte Gleichberechtigung bleibt die grösste Kluft zwischen Kirche und Gesellschaft. Die Frauenfrage sei «keine allein binnenkirchliche Frage», so Dogmatikprofessorin Gunda Werner an die Adresse des Papstes: «Das globale Armutsproblem hängt untrennbar mit der ungerechten Verteilung der Güter und der strukturellen Benachteiligung von Frauen zusammen.»

Für Franziskus ist der Feminismus wie die Ehe für alle eine Revolution gegen die Biologie. Ein unverdaulicher Kulturschock.

Die Hoffnung, dass Franziskus etwas ändern wird, hat dieser mit Datum vom 12. Februar in seinem Schreiben zur Amazonas-Synode zerschlagen: Frauen können von ihrem Wesen her nicht geweiht werden und damit nicht an der Leitungs- und Definitionsgewalt der Kirche teilhaben. Dass Frauen trotz gleicher Würde nicht die gleichen Rechte haben, begründet er mit einer antiquierten Theologie der Geschlechter: Das marianische Prinzip weist den Frauen das empfangende, nährende und dienende Innenministerium zu, das petrinische Prinzip den Männern das aktive amtliche Aussenministerium. Für Franziskus ist der Feminismus wie die Ehe für alle eine Revolution gegen die Biologie. Ein unverdaulicher Kulturschock.

Diesen nüchternen Blick auf den Papst aber verhindert ein äussert zählebiges falsches Narrativ, das des gebremsten Reformers: Längst hätte er substanzielle Reformen eingeführt, wenn nicht die Reformgegner ihn daran hinderten. Prominenter Verfechter dieser These ist der Vatikanist Marco Politi. In seinem neuen Buch «Das Franziskus-Komplott» sieht er den Papst von Feinden umzingelt, die ihn systematisch delegitimieren wollten und ihn in einen Bürgerkrieg hineinzögen. In Wirklichkeit sind seine Feinde einige wenige meist emeritierte Kardinäle plus Anhänger. Sie liefern ihm das Alibi, die angekündigten Reformen nicht einlösen zu müssen.

Barmherzig nur im Einzelfall

Das Narrativ dieses Pontifikats ist ein anderes. Franziskus versteht sich als Seelsorger, der im konkreten Einzelfall barmherzig sein will, die Lehre der Kirche aber unangetastet lässt: Im Ausnahmefall lässt er die evangelische Frau ihren katholischen Ehemann zur Kommunion begleiten. In der persönlichen Begegnung spricht er einem Homosexuellen Mut zu. Im Unterschied aber zu Ad-hoc-Begegnungen und -Interviews finden sich in seinen lehramtlichen Schreiben keinerlei Hinweise auf eine Neupositionierung in der Frauen- und Genderfrage.

Schweizer Bischöfe haben die Notwendigkeit eines Erneuerungsprozesses erkannt, doch für die konservativen unter ihnen besteht dieser in Gebet und Mission.

Damit desavouiert er die von ihm geweckten Hoffnungen und Reformprozesse. Der gerade in Deutschland angelaufene synodale Prozess ist zum Scheitern verurteilt. Bestenfalls wird er auf die seit Jahrzehnten immer gleichen Reformpostulate hinauslaufen. Auch die Schweizer Bischöfe haben die Notwendigkeit eines Erneuerungsprozesses erkannt, doch für die konservativen unter ihnen besteht dieser in Gebet und Mission. So hat der Prozess in der Öffentlichkeit praktisch null Resonanz gefunden. Er dürfte gar nicht erst Fahrt aufnehmen.

Die römische Kirche ist von einer konservativen zu einer rückständigen Konfession geworden – gerade angesichts der geweckten und dann enttäuschten Erwartungen. Unfähig zur Reform, ist sie auch nicht gesellschaftsfähig. Heute hat sie mit dem fundamentalistischen und politischen Islam grössere Schnittmengen als mit der säkularen westlichen Gesellschaft. Das unterscheidet sie substanziell von den evangelischen Kirchen. Der konfessionelle Graben ist so gross wie noch nie: Im Zürcher Grossmünster werden andere Werte gepredigt als in der Freiburger und der Churer Kathedrale.

Eine Kirche in Fundamentalopposition zur Gesellschaft verabschiedet sich als Volkskirche. Sie wird zur Freikirche oder Sekte. Sie verdient es nicht länger, öffentlich-rechtlich anerkannt zu sein, und verliert ihren privilegierten Platz mitten in der Stadt. Konsequenterweise müsste sie aus den Kathedralen in Chur und Freiburg in eine Kapelle an der Peripherie der Stadt umziehen.