Debatte um assistierte Suizide10 Fälle von Sterbehilfe pro Tag – ist die Schweiz bereit für die Zukunft?
Bis 2035 könnte sich die Zahl der assistierten Suizide mehr als verdoppeln. Was heisst das für die Anbieter? Und was für die Gesellschaft? Antworten von der Exit-Tagung in Zürich.
- Die Sterbehilfeorganisation Exit hielt am Samstag in Zürich eine Fachtagung zur Zukunft der Sterbehilfe ab.
- Mit fast 168’000 Mitgliedern ist Exit die grösste Sterbehilfeorganisation der Schweiz.
- Sie fordert, dass es auch künftig keine Spezialgesetzgebung gibt.
- Diskutiert wurde auch über die Sterbehilfe für gesunde Personen, die nicht unumstritten ist.
Samstagmorgen im Hotel Marriott in Zürich. Ein grossgewachsener Mann in einem schwarzen Hemd richtet sein Mikrofon. Sein Blick: voller Vorfreude. Seine Titel: länger als sein Name.
Prof. Dr. med. Uwe Güth ist Gynäkologe und Brustkrebsspezialist. Er wird als erster Referent die grosse Sterbehilfe-Fachtagung von Exit eröffnen. Vor Ort sind Ethiker, Ärztinnen, Psychiater, Politikerinnen und andere, die sich fürs Thema interessieren. Und wie die Sterbehilfe der Zukunft aussehen soll.
Zwar wurde die Tagung weit im Voraus geplant - doch der Zeitpunkt ist ideal. Das Thema brennt, die Suizidkapsel Sarco hat die Debatte um die Sterbehilfe seit dem Sommer neu angeregt. In Bundesbern werden Verbote und Gesetze gefordert, mit dem Kongress kann Exit nun in die Offensive gehen. Sie stellt fünf Forderungen auf, die mehrheitlich auch von den externen Expertinnen und Experten getragen werden.
Abgesehen von Güth. Er ist eine bislang unbekannte Stimme im Thema Sterbehilfe. Doch er hat viel zu sagen: Güth ist Mitglied der Medizinischen Fakultät der Universität Basel und leitet eine Arbeitsgruppe, die das schweizweit grösste Publikationsprojekt zum Thema Sterbehilfe erarbeitet hat.
Mit seinem Referat wird er anecken. Nicht nur wegen seiner Ideen - er fordert Exit an ihrer eigenen Tagung heraus.
Grundlage dafür ist eine Prognose aus einer seiner Publikationen: «In 10 bis 15 Jahren werden wahrscheinlich fünf Prozent aller Todesfälle in der Schweiz mit assistiertem Suizid erfolgen», sagt Güth. In Zahlen sind das rund 3600 pro Jahr. Heute sind es gegen 1600, was 2,1 Prozent aller Todesfälle entspricht.
Für Güth steht fest: Bei künftig so vielen Fällen gebe es ein Missbrauchspotenzial. «Und wer ist in der Schweiz verantwortlich dafür, diese Missbräuche zu verhindern?» Die bisher passive Rolle von Politik und Gesetzgeber sei bei dieser Entwicklung nicht mehr gerechtfertigt.
Doch an dieser Tagung wird deutlich: Wer für die Sterbehilfe strengere Gesetze fordert, muss mit Gegenwehr rechnen. Denn mit seinem Ruf nach mehr Kontrolle ist Güth in diesem Saal weitgehend alleine.
Eine Generation der Autonomie
10 Tage vor der Tagung. Güth führt im Brustzentrum im Zürcher Seefeld in sein Büro. Auf dem grossen Computerbildschirm hat er die Präsentation für die Exit-Tagung bereits geöffnet, «Statuos quo beim assistierten Suizid» steht da. Am Vorabend sei er wieder einige Stunden dran gesessen.
Das Thema treibt ihn seit Jahren um. Und wenn er davon zu sprechen beginnt, dann sprudelt es nur so. 2011 schrieb Güth eine Arbeit zu Brustkrebs und Suizid - und kam unweigerlich in Berührung mit der Sterbehilfe. Denn bis heute ist Krebs die häufigste Diagnose jener, die Sterbehilfe in Anspruch nehmen. «Ich stellte aber fest, wie wenig Daten es in diesem Bereich gibt.» Also begann Güth zu sammeln.
Heute besitzt er eine Menge Sterbedaten. Auf die Prognose von 5 Prozent - die auch Exit für plausibel hält - kam er einerseits aufgrund der Daten vom Bundesamt für Statistik und Exit. Andererseits mittels Faktoren wie die wachsende Akzeptanz der Suizidhilfe in der Bevölkerung. Oder die alternde Gesellschaft.
Und dann gibt es noch einen weiteren Faktoren, vielleicht der wichtigste: «Der Wertekanon verschiebt sich.» Religiöse Überzeugungen und gesellschaftliche Normen würden in den Hintergrund geraten. Jene Generation, die nun 80 Jahre und älter wird, will selber über den eigenen Tod entscheiden können. Weil sie mit einem neuen Selbstverständnis aufgewachsen ist.
War Sarco erst der Anfang?
Was rund um die umstrittene Sterbekapsel Sarco passiert sei, nennt Güth eine «Schnappatmung». Denn sowohl Kantone wie auch Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider wussten nicht so recht, mit welchem Gesetz sie die Kapsel verbieten sollten - was der Bundesrätin auch an der Tagung einiges an Kritik einbringt.
Dabei steht für Güth fest: «In den nächsten 10 Jahren wird die Sterbehilfe in praktisch sämtlichen westeuropäischen Ländern etabliert werden.» Und wo werde man neue Methoden ausprobieren wollen? «Na da, wo es kein Gesetz gibt.» Es sei also eine Frage der Zeit, bis weitere neue Suizidmethoden in die Schweiz kämen.
Zwar wird Güth nicht müde zu betonen, dass er die Arbeit von Exit für gut und qualitativ hochstehend halte. Und doch findet er deren Vormachtstellung problematisch. «Die Suizidhilfe ist faktisch in Vereinshand.» Rund 70 Prozent der in der Schweiz assistierten Suizide werden durch Exit vollzogen. Exit werde in der Alltagssprache als Synonym für Sterbehilfe gebraucht. «Ein Verein erobert so ein Phänomen für sich - das schafft in der freien Wirtschaft gerade mal Coca-Cola oder Google!», sagt Güth im Hotel Marriott.
Doch wenn die Fälle so stark zunehmen: Könne Exit dann noch mithalten? Wer sorge dann für qualitativ gute Angebote? Denn die Sterbehilfeorganisationen benötigen keine behördliche Genehmigung, es gibt keine externe Qualitätskontrolle.
Neue Gesetze? «Bitte nicht»
Güth schlägt etwa vor, ein nationales Register einzuführen, um die stark wachsende Zahl an begleiteten Suiziden zu überwachen. Und er befürwortet, was Sterbehilfeorganisationen wie Exit seit Jahren verhindern wollen: Eine gesetzliche Regelung. Bis heute sind sämtliche Versuche, ein Gesetz für die Sterbehilfe durchzubringen, gescheitert.
Es ist auch eine von fünf Forderungen, die Exit an der Tagung in Zürich vorstellt: weiterhin keine Spezialgesetzgebung.
Daniel Häring pflichtet Exit bei. Er ist Anwalt und Kantonsrichter in Basel-Landschaft. Nach Güth tritt er auf die Bühne und sagt: «Die heutige Norm ist kurz, und sie ist gut.» Damit meint er den einen Artikel (115) im Strafgesetzbuch, der lediglich festlegt, dass die Beihilfe zum Suizid nicht aus selbstsüchtigen Gründen erfolgen darf.
Das Schweizer Stimmvolk, der Bundesrat und auch das Bundesgericht hätten bislang keinen Bedarf gesehen, die Suizidhilfe stärker zu regeln. Rechtlich gesehen seien die zentralen Fragen entweder im Gesetz geregelt oder durch die Gerichte geklärt. Schlussendlich gehe es um die Frage: «Wollen wir ein staatlich reguliertes Sterben? Schliesslich gibt es auch kein staatlich reguliertes Gebären.»
Sein Fazit: «Don’t fix what’s not broken.» Repariere nicht, was nicht kaputt ist.
Der Satz ist an diesem Tag schon fast ein Mantra. Auch der bekannte forensische Psychiater Frank Urbaniok greift ihn in seinem Referat auf. «Wir tendieren dazu, alles mit Regulierungen zuzubetonieren.» Neue Gesetze? «Bitte nicht.» Auf die Frage, wer bei doppelt so vielen assistierten Suiziden in der Verantwortung stehe, hat Urbaniok eine klare Antwort: «Die Menschen.» Natürlich werde es bei mehr Fällen auch mehr Fehler geben. Doch man müsse den Menschen zutrauen, selber zu entscheiden, mit welcher Organisation und wie sie aus dem Leben gehen wollen.
FDP-Nationalrätin Regine Sauter - eine der sehr wenigen anwesenden Parlamentarierinnen - sagt es später im Podium so: «Sterben muss nicht fancy sein.» Darum halte sie nicht viel von der futuristischen Sarco-Kapsel, und schon gar nicht von der «unsäglichen» Diskussion rundherum. Verbote und Gesetze brauche es nicht. «Wir sind in der Schweiz gut aufgestellt.»
Suizidhilfe für gesunde Personen – ein Widerspruch?
Besonders hitzig wird es jedoch bei einem zentralen Thema: Sollen gesunde Menschen Suizidhilfe in Anspruch nehmen dürfen?Ja, findet Exit. Nein, meint die SAMW. Und wird dafür während des Kongresses von mehreren Seiten angegriffen.
Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) spricht sich in ihren Richtlinien dagegen aus. Diese sollen Ärztinnen und Ärzten einen medizin-ethischen Rahmen geben. Darin steht auch nach mehreren Revisionen: «Ethisch nicht vertretbar im Sinn dieser Richtlinien ist Suizidhilfe bei gesunden Personen». Da die Ärzteverbindung FMH diese Richtlinien in ihre Standesordnung übernommen hat, seien diese Richtlinien durchaus verpflichtend, argumentiert Exit.
Die Organisation fordert eine Überarbeitung und fühlt sich bestärkt durch das Bundesgericht, das im Frühling einen Arzt freisprach, der einer gesunden Frau zum Suizid verhalf. Und sowieso, argumentiert ein Exit-Vorstandsmitglied in seinem Referat, «ist eine Suizidhilfe beanspruchende Person nie gesund».
Paul Hoff, Präsident der Ethikkommission der SAMW, schüttelt es bei diesem Argument. «Das eigene Leben beenden zu können, gehört zur Autonomie und Entscheidungsfähigkeit der Menschen», sagt er in einer Pause. «Wenn man jemanden, der sein Leben selber beenden will, automatisch als krank bezeichnet, finde ich das falsch.»
Er wehrt sich gegen den Vorwurf, die Richtlinien seien «überholt». Das Bundesgericht habe sich nicht dazu geäussert, ob es assistierten Suizid bei gesunden Menschen gut oder schlecht finde. «Vielmehr hat es den Arzt freigesprochen, weil kein Medizingesetz anwendbar war.» Hoff findet, assistierter Suizid gehöre nicht selbstverständlich zum Arztberuf, «erst recht nicht bei Gesunden.»
Doch ist das nicht ein Widerspruch zur Freiheit jedes Menschen, sein Leben beenden zu können? Er sage nicht, dass ein «Alterssuizid» grundsätzlich ethisch inakzeptabel sei, entgegnet Hoff. Nur müsse diese Debatte nicht primär von den Ärzten geführt werden, sondern von der breiten Gesellschaft.
Exit als Übergang
«Hochspannend!», sagt Uwe Güth über die Debatten. Seine Prognose der fünf Prozent in 10 bis 15 Jahren bezweifelt an diesem Tag niemand. Und gleichzeitig scheint sie vielen zu weit weg.
Exit-Präsidentin Marion Schafroth nennt ihn immer wieder «sehr progressiv». Güths Ideen seien interessant - doch Exit denke in kurz- bis mittelfristigen Szenarien.
Auch wenn sie selbst eine ziemlich klare Vorstellung hat, wie es mit Exit weitergehen könnte. «Wenn sich die Sterbehilfe noch mehr etabliert und die Fälle noch mehr zunehmen, werden auch die Mediziner weniger Vorbehalte haben oder gar selber Suizidhilfe leisten.» Sie stellt sich vor, dass Exit langfristig nur noch jenen Menschen beim Suizid hilft, die keinen Arzt oder keine Ärztin finden. Exit sei quasi «vorübergehend».
Doch bis dahin gilt auch für sie: «Don’t fix what’s not broken.»
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