Sturm auf den ReichstagRotes Tuch vor der Herzkammer der Demokratie
Was hat es mit den Reichsflaggen an den Corona-Demonstrationen auf sich? Und warum ist der Reichstag in Berlin ein derart aufgeladenes Symbol der deutschen Demokratie?

Auf einmal rannte die Menge los, schob Absperrgitter und Polizisten zur Seite, hetzte die Auffahrt hinauf, stieg die paar Stufen zu Säulen und Eingang des Reichstags hoch und stand schliesslich vor der Glasfassade. Wie wacklige Videos zeigen, wurde der Eingang zum historischen Gebäude an diesem Samstagabend lediglich von drei Polizisten bewacht.
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Die drei Ordnungshüter waren vom Ansturm sichtlich überfordert: Sie funkten nach Verstärkung, fuchtelten mit ihren Schlagstöcken und versuchten, die schreienden Demonstranten durch Schreien zur Umkehr zu bewegen. Einer der drei Polizisten hatte nicht mal einen Helm auf, zeigte aber unerschrocken seine Fäuste und ging gegen die ihn bedrängende Horde vor.
Die Szene dauerte nur einen Moment, dann eilten bereits Dutzende von Polizisten ihren Kollegen zu Hilfe. Sie drängten die etwa 200 Demonstranten weg und riegelten den Platz zum Eingang wieder ab. Am Fusse des Reichstags aber skandierten die selbst ernannten Umstürzler noch minutenlang ihre Parolen und schwenkten Fahnen, unter anderem die berüchtigten schwarz-weiss-roten Reichsflaggen.

Eine kurze Unaufmerksamkeit der Polizei hatte den Rechtsextremisten und Reichsbürgern so ausgerechnet vor dem Reichstag einen unverhofften Moment des Triumphs geschenkt, den die Beteiligten sichtlich auskosteten. Sie gelangten zwar nicht ins Gebäude, konnten aber unter dem historischen Schriftzug «Dem deutschen Volke» ungestraft so tun, als ob der Reichstag nun ihnen gehören würde. In den sozialen Medien vervielfältigten sich die Bilder ihres «Sturms auf Berlin» bereits am Samstagabend hunderttausendfach.
Das Symbol der deutschen Demokratie
Das Berliner Reichstagsgebäude wurde zwischen 1884 und 1894 als Parlament des seit 1871 bestehenden deutschen Kaiserreichs im Stil der Neorenaissance erbaut. Nach dem Sturz der Monarchie 1918 blieb es auch in der zerbrechlichen Weimarer Republik der Sitz des Parlaments. Zum Symbol wurde der Reichstag durch den Brand 1933, den Adolf Hitlers Nationalsozialisten als Vorwand nutzten, um die Demokratie auszuhebeln und eine totale Diktatur einzurichten.
Solange Berlin nach 1945 geteilt war, blieb der Reichstag, der im britischen Sektor lag, unbenutzt. Der Bundestag tagte in Bonn. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 wurde das Reichstagsgebäude vollumfänglich saniert und erhielt eine moderne Glaskuppel des Architekten Norman Foster. Seit 1999 dient es wieder als Plenarsaal des deutschen Parlaments.
Die Farben der Demokratiegegner
Wenn an jenem Ort jedoch schwarz-weiss-rote Fahnen wehen, sehen die Demokraten rot: Das waren seit den 1860er-Jahren die Farben des Deutschen Reichs, insbesondere des Kaiserreichs von 1871 bis 1918. Die Weimarer Republik dagegen verwendete das ältere, republikanische Schwarz-Rot-Gold; die Reichsflagge wurde hingegen zum Erkennungszeichen von Monarchisten und Demokratiegegnern.
Auch die Nazis setzten auf Schwarz-Weiss-Rot, ergänzt durch das Hakenkreuz. Heute gilt die Reichsflagge vor allem als Erkennungszeichen von Reichsbürgern, die die Bundesrepublik für einen illegitimen Staat halten, und von Rechtsextremisten, denen das Tragen von Reichskriegsflagge und offensichtlichen Nazisymbolen wie dem Hakenkreuz gesetzlich verboten ist.
Bestürzung in der Politik
Politiker aus allen Parteien zeigten sich am Sonntag bestürzt über die rechtsextremistische Symbolik vor dem Reichstag. «Reichsflaggen und rechtsextreme Pöbeleien vor dem Deutschen Bundestag sind ein unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie», erklärte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. «Das werden wir niemals hinnehmen.»
«Unsere Demokratie lebt», betonte Steinmeier. Wer sich über die Corona-Massnahmen ärgere, könne das tun, auch in Demonstrationen. «Mein Verständnis endet da, wo Demonstranten sich vor den Karren von Demokratiefeinden und politischen Hetzern spannen lassen.» Innenminister Horst Seehofer (CSU) nannte den Missbrauch des «symbolischen Zentrums unserer freiheitlichen Demokratie» «unerträglich».
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Aussenminister Heiko Maas (SPD) sagte: «Reichsflaggen vor dem Parlament sind beschämend.» Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) forderte eine harte Antwort des Staates: «Das unerträgliche Bild von Reichsbürgern und Neonazis vor dem Reichstag darf sich nicht wiederholen. Gegen diese Feinde der Demokratie müssen wir uns mit aller Konsequenz zur Wehr setzen.»
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Vereinzelt gab es auch Vorwürfe an die Polizei, die die Demonstrationen von rund 50'000 Menschen gegen die Corona-Politik der Regierung ansonsten aber gut im Griff hatte. «Wir können nicht immer überall präsent sein», rechtfertigte sich Polizeisprecher Thilo Cablitz. Die Demonstranten hätten eine Lücke zu einem Vorstoss genutzt, den man nicht sofort habe verhindern können.
Ob das Reichstagsgebäude vor Angriffen genug geschützt ist, wird nach dem Vorfall vom Samstag bestimmt neu geprüft werden. Erst im Juli hatten es Aktivisten der Umweltschutzorganisation Greenpeace geschafft, ein Transparent zum Kohleausstieg an der Fassade mit dem Spruch «Dem deutschen Volke» zu montieren.
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