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200 Festnahmen in Berlin
Im Westen Sit-Ins, im Osten Randale

Insgesamt werden 200 Personen festgenommen: Die Polizei nimmt Vegan-Koch Attila Hildmann in Gewahrsam.
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Irgendwann am Nachmittag zerfällt die Großveranstaltung der Anti-Corona-Demonstranten in Berlin in zwei Welten. Östlich vom Brandenburger Tor, auf dem Boulevard Unter den Linden, ist die Stimmung geladen, ja, gewaltbereit. Es fliegen Flaschen und Steine. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) berichtet am frühen Abend von 2000 bis 3000 Rechtsextremen und Reichsbürgern, die sich vor der Russischen Botschaft Gefechte mit der Polizei lieferten. Es gäbe sieben verletzte Polizisten und alleine hier 200 Festnahmen; auch der Verschwörungsanhänger Attila Hildmann wird abgeführt. Wenig später versucht eine Gruppe von Randalierern, in den Reichstag einzudringen, wird aber von der Polizei gestoppt.

Westlich vom Brandenburger Tor erinnert die Veranstaltung an ein Woodstock-artiges Sit-In. Tatsächlich sind es auch zwei Demonstrationen, angemeldet von zwei unterschiedlichen Personen. Im Westen ist es das Gebiet von Michael Ballweg, dem Stuttgarter Unternehmer, der «Querdenken 711» gegründet hat. Rund um die Siegessäule findet seit 15.30 Uhr die Abschlussveranstaltung statt. Seine Anhänger füllen den Platz am Grossen Stern und die Strasse des 17. Juni bis hinunter zum Brandenburger Tor.

Es sind junge und alte Männer und Frauen, Hippies darunter, manche haben im Tiergarten direkt daneben kleine Lager aufgeschlagen, Kinder spielen dort. Mehr als 30’000 Menschen sind es laut Innensenator Geisel, die sich insgesamt hier versammelt haben. Über mehrere Lautsprecher ruft sie Ballweg von der Bühne neben der Siegessäule auf, die Hand aufs Herz zu legen. «Mit der Hand auf dem Herzen setzen wir ein Zeichen für Liebe und Frieden in der Welt», sagt er. Und viele machen mit. Zwischendurch gibt es immer wieder eindringliche Ermahnungen, den Sicherheitsabstand einzuhalten. Sonst würde die Veranstaltung von der Polizei geräumt. Denn Masken will hier keiner tragen.

Die einen liefern sich Gefechte mit der Polizei, die anderen nehmen es friedlicher.


Ballweg hat eine sanfte Stimme und er wählt sanfte Worte. Doch was er fordert, ist hart, er will nicht weniger als die Regierung zu stürzen. «Wir fordern die Abdankung der Bundesregierung», ruft er. Seine Anhänger applaudieren heftig. Aber sie applaudieren auch, als er sie auffordert, für die Berliner Polizei zu klatschen, mit der man «super zusammengearbeitet» hätte. Anschliessend ruft Ballweg die Polizei auf, eine «verfassungsgebende Versammlung» zu schützen, die in den kommenden 14 Tagen hier Tagen soll. «Ihr steht heute hier, weil Euch niemand mehr sagt, wie ihr zu denken und leben habt», ruft er seinen Anhängern zu. Es wirkt etwas paradox aus dem Munde von Ballweg.

Im Osten der Demonstration hingegen geht es wesentlich ruppiger zu. Die Veranstaltung Unter den Linden rund um die Ecke zur Friedrichstrasse wird bereits um 13 Uhr von der Polizei für aufgelöst erklärt. Die Protestierenden haben sich trotz mehrfacher Ermahnung nicht an den Sicherheitsabstand gehalten und geweigert Masken aufzusetzen. «Der Versammlungsleiter hat keine Möglichkeit mehr, auf Sie einzuwirken», wiederholt die Polizei mehrmals über Lautsprecherwagen. «Die Versammlung ist aufgelöst.» Doch die Menschen hier wollen nicht gehen. «Wir sind das Volk. Wir bleiben hier», rufen Organisatoren und Anhänger.

Rund 30’000 Teilnehmer versammeln sich um die Siegessäule. 


Die Taktik der Polizei, die mit gut 3000 Beamten im Einsatz ist, zielt darauf ab, nicht grossflächig zu räumen, sondern einzelne Personen aus der Menge zu holen. So gehen die Beamten auch bei einer Ansammlung von rechten Hooligans und Reichsbürgern vor der russischen Botschaft vor. Dabei kommt es zu ersten Handgreiflichkeiten. Umstehende heizen die Stimmung mit lauten Rufen an. Erst skandieren sie «Widerstand», dann «Frieden». Auch das: etwas paradox.

Die Maske ist das Symbol, das die Welten trennt

Das Kalkül der rechten Gruppen, sich mit den Sympathisanten von Querdenken zu mischen, geht nicht wirklich auf. Sie haben ihre Bühne vor dem Reichstag aufgebaut, aber es sind nur wenige hundert Menschen, die ihnen zuhören.

Etwas abseits der Menge sitzen zwei Männer und eine Frau auf einer Bank. Sie wirken gut gelaunt, am Morgen sind sie aus Mannheim angereist, am Abend wollen sie wieder zurück. Warum sie hier sind? «Weil wir Angst haben», sagt die junge Frau, die Ingenieurin ist und Jessica heisst. Sie glauben schon, dass es den Corona-Virus gibt, aber er sei bei weitem nicht so schlimm, dass er die harten Einschränkungen rechtfertige. Sie erzählt von ihrer Mutter, die im Altenheim lebe und «verkümmert», weil die Tochter sie nicht besuchen durfte. «Aber das ist doch ihr freier Wille.» Der junge Mann neben ihr, Sven, ebenfalls Ingenieur, erzählt von seinem Sohn, der in der Schule nun Maske tragen müsse. «Der hat schon eine Klatsche davon bekommen.»

Rechtsanwalt, Umweltaktivist, Impfgegner und Neffe des Präsidenten JFK:Robert Francis Kennedy junior  spricht bei der Demonstration.


Überhaupt ist die Maske hier das Symbol, das die Welten trennt. Während kaum einer der Demonstranten eine Maske trägt, tragen die Gegendemonstranten sie geradezu ostentativ.

Mitten in der Nacht, um drei Uhr, hatte das Oberverwaltungsgericht (OVG) das «Go» für die Veranstaltung gegeben. Es war das Ende eines juristischen Scharmützels zwischen dem Land Berlin und den Anti-Corona-Regel-Demonstranten von «Querdenken 711». Nachdem die Versammlungsbehörde am Mittwoch den Protestzug verboten hatte, hatten die Veranstalter aus Stuttgart, Vorwahl 0711, dagegen einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht eingereicht, das diesem am Freitagnachmittag stattgegeben hatte. Dagegen legte wiederum die Polizei Berlin Beschwerde ein – die nun die Richter am OVG nach einer Nachtsitzung abgelehnt haben.

Der Beschluss ist eine Niederlage für das Land Berlin, vor allem aber für Innensenator Geisel. Er hatte das Verbot der Demonstration vehement verteidigt. Doch die Richter zerlegten die Begründung des Verbots geradezu: Das Gericht sah keine «unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit» durch die Sympathisanten von «Querdenken 711». Das Tragen von Masken, das diese ablehnen, sei nicht obligatorisch – so lange die Sicherheitsabstände eingehalten würden. Ausserdem gaben die Richter den Veranstaltern noch ein paar Sicherheitsanweisungen mit auf die Demo. Die Polizei hat daraufhin angekündigt, man werde «zügig räumen», sollten sich die Teilnehmer nicht an den Infektionsschutz halten.

Am Vormittag hat die Berliner Polizei dann den Kurs verschärft: Weil die Demonstranten die Sicherheitsabstände nicht einhalten, machen sie Masken zur Auflage: Das Gericht gebe den Versammlungsteilnehmern «eine zweite Chance zu zeigen, dass sie sich an die Auflagen halten», kommentierte Geisel die Entscheidung. Er erwarte von den Menschen, die in Berlin demonstrieren, «dass sie alles für den Infektionsschutz tun. Und dass sie es friedlich tun.» Grosse Sorge bereite ihm «nach wie vor die europaweite Mobilisierung unter Rechtsextremisten».

Die rechtsextreme Szene ruft im Vorfeld zum «Sturm auf Berlin» auf

Denn noch problematischer als Tausende Corona-Gegner, die gegen die Hygienevorschriften verstossen, sind für die Sicherheitsbehörden die Gruppen, die sich im Sog von «Querdenken 711» bewegen. Neben AfD-Funktionären hat auch die gesamte rechtsextreme Szene dazu aufgerufen, am Wochenende in der Hauptstadt auf die Strasse zu gehen: Identitäre Bewegung, NPD, Dritter Weg. Nach Angaben der Polizei haben deren Anhänger auch in Spanien, Frankreich oder Belgien mobilisiert.

Die Proteste sind sehr heterogen, trotzdem ist dies nicht der einzige Demonstrationsteilnehmer mit Reichsflagge. 

Vor allem die Reaktionen bei Rechtsextremisten, Corona-Leugnern und Verschwörungstheoretikern auf das vorläufige Verbot der Versammlungen schockieren die Sicherheitsbehörden. In den sozialen Medien ist zum «Sturm auf Berlin» aufgerufen worden, in einigen Fällen wurde der Einsatz von Waffen gefordert. Berlins stellvertretender Polizeipräsident Marco Langner warnte vor einigen erheblich aggressiven Demonstranten: «Diese offen formulierte Gewaltbereitschaft gegen den Staat stellt für uns eine neue Dimension dar.»