TV-Kritik «Tatort»Das «Wer denn sonst?»-Prinzip
Der neue «Tatort» aus Dresden wurde erst zum Schluss richtig spannend. Zeit also für ein wenig Theorie.
Ein offensichtlich verwirrter junger Mann klaut eine Handtasche aus dem offenen Auto vor einer Gärtnerei. Als jemand auftaucht, rennt er aufgeschreckt davon. Später liegt die Schwiegermutter des Gärtners tot in den Stiefmütterchen. Klar fällt der Verdacht sofort auf den gestörten Mitarbeiter vom Anfang. Wer denn sonst?
Ja, wer? Im klassischen «Tatort» ist es niemals derjenige, auf den der Anfangsverdacht fällt. Auch wenn – wie in dieser Folge, «Totes Herz» – wiederholt «Wer denn sonst?» gefragt wird, kommt als Täter oder Täterin nur eine Person infrage, die zu Beginn ganz unschuldig zu sein scheint. Wobei Kommissarin Karin Gorniak (Karin Hanczewski) ihren Chef noch darauf hinweist, dass bei Mordfällen das Gendern nicht unbedingt Pflicht sei, weil da immer noch die Männer die Nase vorn hätten.
Ja, der Gärtner schläft auf dem Sofa
So weit, so routiniert. Aber dann begeht dieser «Tatort» eine dramaturgische Sünde: Nach 40 Minuten tritt plötzlich neues Personal auf, der verdächtige Junge vom Anfang wird entsorgt (im wahrsten Sinne), eine andere Geschichte beginnt. Und die ganze «Wer denn sonst»-Konstruktion ist nichts mehr wert.
Dabei geben Drehbuchautorin Kristin Derfler und Regisseur Andreas Herzog alles: Der Fall nimmt immer neue Wendungen, volle Pulle. Gleichzeitig scheinen die beiden jedoch dem Wahrnehmungsvermögen des Publikums nicht zu trauen. Wir haben zum Beispiel schon lange gesehen, dass der Gärtner nicht im Ehebett, sondern auf der demonstrativ ins Bild gerückten Couch geschlafen hat. Aber eine Szene später wird noch erklärt: «Es scheint in der Ehe zu kriseln, das schliesse ich aus dem Sofa.»
Vor sieben Wochen noch halb tot
Trotz solchen Kommentaren gibts logische Löcher. Und Dinge werden behauptet, die schwer nachvollziehbar sind: Ist es wirklich medizinisch möglich, ein gebrochenes Herz festzustellen?
Aber eigentlich ist da gar keine Zeit für solche Fragen, weiter, weiter. Es gibt viel zu erledigen, auch der Chef (Martin Brambach), der in der letzten Dresdener Folge vor sieben Wochen noch halb tot in seinem Blut lag, bekommt noch eine Szene, die zeigt, dass es ihm noch nicht so gut geht, wie er selbst denkt.
Das Finale dann ist aber wirklich spannend. Und bringt eine Überraschung, die kaum vorhersehbar war. Geht das wirklich auf? Die Erklärung folgt auch hier sofort: Noch einmal wird das Geschehen aufgerollt, unter dem neuen Gesichtspunkt, während die Frau, die für alles verantwortlich war, äusserst ästhetisch tief fällt. In Zeitlupe.
Ja, es war eine Mörderin, Frau Gorniak. Wer denn sonst?
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