Analyse zu AlgorithmenDas Tiktok-Gehirn
Wie von Algorithmen ausgewählte Inhalte alle Timelines verstopfen. Und unsere Gedanken.
Man wolle doch nur seine Freunde und Verwandten sehen, sei das etwa zu viel verlangt? So oder so ähnlich klangen in den vergangenen Wochen die Klagen, die wegen eines anstehenden Neudesigns von Facebook und Instagram angestimmt wurden. Um gegen die stärker werdende Konkurrenz durch die Video-App Tiktok anzugehen, werde das Update vermehrt Inhalte von Personen ausserhalb des eigenen sozialen Kreises bereitstellen. Anstatt der Ferienschnappschüsse und den neuen Babys der Freunde sieht man bald also professionelle Spassmacher, die man heutzutage Creators nennt.
Discovery Engine nennt man die Neuerung hausintern. Das ist nur ein netter Ausdruck dafür, dass man sich von der Plattform vorschreiben lassen muss, welche Art von Inhalten man konsumiert. Der Gegenwind, den sich der Mutterkonzern Meta damit eingefangen hat, ist beachtlich. So beachtlich, dass der Konzern einen Teil der Neuerungen bereits wieder rückgängig machen will.
Wie passend, dass der «New Yorker» gerade eine Algorithmic Anxiety diagnostiziert hat, die Internetnutzer zunehmend befalle. Die wörtliche Übersetzung – Angst – greift dafür zu kurz. Es ist eher die digitale Entsprechung jener Nervosität, die Soziologen wie Georg Simmel zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Menschen in der Grossstadt zuschrieben. Die Psyche kommt mit der Umgebung nicht mehr mit.
Werden wir falsch wahrgenommen oder unheimlich präzise erkannt?
Algorithmic Anxiety beschreibt das Gefühl des modernen Internetnutzers, sich ständig mit maschinellen Einschätzungen seiner Wünsche auseinandersetzen zu müssen: Bedrängt von automatisierten Empfehlungen müssen wir erraten, wie genau sie uns beeinflussen. Während permanent Informationen über das eigene Nutzungsverhalten gesammelt und interpretiert werden, fehlt die Möglichkeit, selbst Feedback zu geben, ob die Software überhaupt richtigliegt. In manchen Momenten fühlen wir uns falsch wahrgenommen oder in die Irre geführt und in anderen Momenten mit unheimlicher Präzision erkannt.
Algorithmic Anxiety ist der stete Verdacht, dass die eigenen Neigungen, der Geschmack umgeformt werden. Sieht man Dinge, weil man sie wirklich interessant findet – oder nur weil die KI meint, dass man sie interessant finden könnte? Das vermiest einem die Freude, die man früher bei der Entdeckung von Neuem empfunden hat. Zum Beispiel Spotify: Obwohl man hier Zugriff auf so gut wie die ganze Musik der Menschheitsgeschichte habe, fühle sich nichts zwangsläufig aufregend, emotional oder persönlich an, hiess es vor einiger Zeit auf dem Branchenportal Pitchfork.com. Die Mühelosigkeit und Zufälligkeit, mit der man die Inhalte serviert bekommt, führt zu ihrer Entwertung.
Bei einigen Menschen entsteht daraus das Gefühl, nicht mehr genau zu wissen, wer für die eigenen Handlungen und Entscheidungen verantwortlich zeichnet. Man selbst oder die Empfehlungsmaschinen? Es kann sich anfühlen, als versuche jede App zu erraten, was der Nutzer will, bevor sein Gehirn Zeit hat, eine eigene Antwort darauf zu finden. Wenn ein maschineller Souffleur die eigenen Wege im Netz permanent begleitet, wird man irgendwann unsicher: Wie hätten wir uns verhalten, wenn die Entscheidung uns selbst überlassen gewesen wäre?
Bei all diesen Überlegungen wird «dem Algorithmus» vielleicht zu viel Gestaltungsmacht zugeschrieben. Das Wörtchen hat längst seine ursprüngliche Bedeutung als Abfolge von Rechenschritten verloren und ist zur Metapher geworden. In seiner neuen Interpretation wird der Algorithmus eher als Naturgewalt oder arkane Kunst wahrgenommen. So oder so aber als eine Entität, die sich ausserhalb menschlichen Einflussvermögens befindet.
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