Ukraine-Blog: Fotos, Fakes und Fragen Russischer TV-Sender macht aus Puppe ukrainische Leiche
Was uns Twitter, Instagram und Co. aus dem Krieg zeigen – und was nicht. Wir leuchten aus, erklären und ordnen ein.
Diese Metallkäfige zeigen ein Problem der russischen Invasion
Anfang März versuchten russische Truppen, die Kleinstadt Voznesensk im Süden der Ukraine einzunehmen. Ein Sieg in der strategisch wichtigen Ortschaft hätte ihnen weitere Offensiven ermöglicht, etwa auf die Hafenstadt Odessa.
In einem zweitägigen Gefecht schlugen die Dorfbewohner mit Hilfe der ukrainischen Armee die russischen Truppen zurück. Der Sieg in der «Schlacht um Voznesensk» wird als Heldentat gefeiert. Die Stadt hätte die Invasoren mit Jagdgewehren und Ziegelsteinen zurückgeschlagen, sagen Bewohner zur BBC.
Entscheidender dürfte wohl das Artilleriefeuer der ukrainischen Armee gewesen sein. Und die Panzerabwehrwaffen, die in hohen Stückzahlen aus Deutschland oder Grossbritannien geliefert werden.
Solche Lenkraketen des Typs Javelin können von einzelnen Personen abgefeuert werden, zum Beispiel aus der Deckung eines Hauses oder aus einem Waldstück. Das macht sie ideal für Angriffe aus dem Hinterhalt.
Gegen diese Panzerabwehrwaffen haben die russischen Streitkräfte auf manchen Panzern Metallkäfige montiert – schon weit vor der Invasion der Ukraine, wie Aufnahmen auf der Krim von Ende 2021 zeigen. Sie sollen die gegen die Fahrzeuge abgefeuerten Geschosse vorzeitig zur Explosion bringen, sodass die Panzerhülle selber nicht die ganze Zerstörungskraft abkriegt.
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Doch das stellt sich im Ukraine-Krieg als ineffektiv heraus. Seit der Invasion am 24. Februar sollen laut Angaben der Rechercheplattform Oryx 300 russische Panzer ausser Gefecht gesetzt worden sein. Die ukrainische Armee geht sogar von 600 zerstörten Panzern aus.
Bilder von zerstörten russischen Panzern mit den aufgeschweissten Metallkäfigen werden in den sozialen Medien deshalb mit dem Begriff «Cope Cage» verbreitet. «Coping» ist ein Begriff aus der Psychologie und meint Strategien mit dem Ziel, Stress und unangenehme Emotionen zu reduzieren.
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Die Vorrichtungen würden den Truppen vielleicht «psychologischen Schutz» geben, sagt Justin Crump von der britischen Sicherheitsfirma Sibylline zu Business Insider. Aber in Bezug auf den Schutz vor Javelins seien sie «die weitaus ineffektivste Form von Panzerung».
Das zeigt auch die Schlacht um Voznesensk. Auf Bildern von Überwachungskameras sind russische Panzer zu sehen, wie sie in die Kleinstadt einfahren. Auf den Gefechtstürmen sind Metallkäfige montiert.
Die Panzerabwehrwaffen in den Händen der Ukrainer fordern in den folgenden Gefechten einen hohen Tribut. Die Russen verlieren 30 Panzer und Fahrzeuge sowie einen Helikopter, berichten BBC und Wall Street Journal übereinstimmend. In den Tagen danach tauchen weitere Aufnahmen von russischen Panzern in Voznesensk auf, diesmal komplett zerstört. Darauf: Cope Cages.
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Kommt es in der Ukraine zu einem «Toyota-Krieg»?
Die Verluste an schwerem Kriegsgerät im Ukraine-Krieg sind enorm. Seit der Invasion vor rund einem Monat sollen laut ukrainischen Angaben rund 600 russische Panzer zerstört worden sein. Die unabhängigen Beobachter der Rechercheplattform Oryx, die Kampfhandlungen anhand von Bildern und Videoaufnahmen dokumentieren, gehen von 300 ausser Gefecht gesetzten russischen Panzern aus. Gemäss der Oryx-Dokumentation verloren die russischen Streitkräfte insgesamt über 2000 Fahrzeuge. Auf ukrainischer Seite seien es rund 570 Fahrzeuge.
Zivile Fahrzeuge werden darum immer wichtiger für Nachschub, Truppentransporte – und für Kampfeinsätze. So sind kürzlich Aufnahmen von Pick-up-Trucks mit Maschinengewehren auf der Ladefläche aufgetaucht. Das Video zeigt fünf Offroader mit «Z»-Markierung auf den Türen auf einer Strasse, es soll am Sonntag in der Nähe von Mariupol im Südosten der Ukraine aufgenommen worden sein. Ort und Zeitpunkt können nicht unabhängig überprüft werden.
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Pick-ups mit Geschützen – das kennt man vor allem aus dem Krieg in Syrien und dem Irak, wo IS-Kämpfer auf die geländegängigen Fahrzeuge setzten. «Bild»-Reporter Julian Röpcke sieht in den Aufnahmen denn auch eine «Syrifizierung» des Krieges. Die Hypothese: Wegen der hohen Verluste an schwerem Kriegsgerät schwenken die russischen Truppen auf leichtere, mobilere Fahrzeuge um. Solche Einheiten sind agiler und weniger stark angewiesen auf befestigte Transportwege.
Mit dieser Taktik gelang es dem Tschad im Krieg gegen Libyen im Jahr 1987, eine übermächtige Panzerarmee überraschend zu schlagen. Wegen des Einsatzes von Geländewagen der Marke Toyota wird dieser Krieg auch «Toyota-Krieg» genannt. Seither werden die «Technicals» genannten bewaffneten Pick-ups vor allem von Milizen und Rebellengruppen in Nordafrika und der Sahelzone eingesetzt.
In der Ukraine wurden solche bewaffneten Allradfahrzeuge schon zu Beginn des Krieges in Weissrussland nahe an der ukrainischen Grenze gesichtet. Ein Militärexperte des King’s College in London vermutete damals, dass sie von russischen Spezialeinheiten für Sabotageakte im Raum Kiew genutzt wurden.
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Die Geländewagen sind auch im Osten der Ukraine im Einsatz. Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow soll Mitte März 50 Geländewagen ins Separatistengebiet geschickt haben. In einem Video sagt der Chef der sogenannten Volksrepublik Donezk, Denis Puschilin, laut Übersetzung: «Das ist genau, was wir an der Front brauchen.»
Freiwillige liefern Pick-ups aus baltischen Staaten
Der Einsatz von zivilen Fahrzeugen dürfte auch auf ukrainischer Seite an Wichtigkeit gewinnen. Die Plattform Oryx hat insgesamt 570 zerstörte oder beschädigte militärische Fahrzeuge registriert. Berichte über eine zerstörte Panzerfabrik lassen an der Fähigkeit der Ukraine zweifeln, die Verluste eins zu eins ersetzen zu können.
Die Regierung von Präsident Selenski hofft zwar immer noch auf die Lieferung von Flugabwehrsystemen und Panzern durch die benachbarten Nato-Länder. Doch das Verteidigungsbündnis reagiert bislang zurückhaltend auf die Forderungen. Der Geschäftsmann und ehemalige Vorsitzende der Partei Ukrainischer Patrioten, Hennadij Korban, schrieb in einem Facebook-Post, die ukrainische Führung müsse nun Tausende Pick-ups und Jeeps beschaffen und den Besetzern einen «Toyota-Krieg» entgegensetzen.
Solche Geländefahrzeuge werden nun in immer grösserer Zahl von Freiwilligen aus den umliegenden Staaten in die Ukraine gebracht. Über 300 gespendete Offroader sollen in den letzten Wochen aus Litauen, Lettland und Estland angekommen sein.
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Die Non-Profit-Organisation Blue and Yellow, die während des Kriegs in der Ostukraine im Jahr 2014 gegründet wurde, hat ein regelrechtes Versorgungsnetzwerk aufgebaut. Lastwagen voller Schutzwesten, Nachtsichtgeräte und Generatoren bringen Nachschub über Polen in den Westen der Ukraine. Auch Geländewagen gehören zu den umfangreichen Lieferungen, wie ein Journalist der Washington Post in seiner Reportage schreibt.
Die Allrad-Fahrzeuge werden demnach in Tarnfarben angemalt und teilweise mit Panzerung versehen. Besonders die Pick-up-Trucks sind beliebt, weil ihre Ladeflächen mit Maschinengewehren oder Panzerabwehr bestückt werden können. Ein Leutnant der ukrainischen Landesverteidigung sagt gegenüber der Zeitung: «Diese Fahrzeuge sind essenziell. Sie sind unsere Feuerkraft, unsere Mobilität.»
Hannes von Wyl, publiziert am 29. März 2022
Video soll Misshandlung russischer Kriegsgefangener zeigen
Der genaue Standort ist unklar, die Szene stammt aus einem verlassenen Hinterhof, angeblich irgendwo in der Ukraine. Am Boden liegt eine Gruppe schwer verletzter Männer. Ein Kameramann geht mit seinem Handy von Mann zu Mann, dokumentiert Verletzungen, zieht weisse Jutesäcke von den Köpfen der Gefangenen und filmt ihre Gesichter.
Er spricht sie auf Russisch an. Die meisten der Gefangenen stehen offenbar unter Schock und geben keine Antwort. Am Ende des Videos erscheint ein Transporter, drei weitere Männer steigen aus. Ihnen wird ins Knie geschossen, unter Schmerzen fallen die Männer zu Boden.
Ukrainisches Kriegsverbrechen oder russische Propaganda? Screenshot aus besagtem Video. (27. März 2022)
Dann endet das Video abrupt nach 3:38 Minuten. Der Soldat, der schiesst, trägt am Oberarm ein blaues Band. Die Männer, die zu Boden fallen, ein weisses. Das Video soll angeblich die Misshandlung russischer Kriegsgefangener durch ukrainische Soldaten zeigen.
Das Video ist seit gestern in zahlreichen Telegram-Gruppen und Twitter-Feeds sowohl prorussischer als auch proukrainischer Gruppierungen zu sehen. Die Kommentare dazu fallen sehr durchmischt aus: Einige verurteilen die Aktion als Kriegsverbrechen, andere feiern sie genau dafür, und wieder andere halten sie für eine Propaganda-Operation russischer Soldaten, die sich als Ukrainer verkleidet haben.
«Weitere Untersuchungen erfordert»
Ob die Übeltäter im Video tatsächlich Ukrainer sind, oder ob es sich um eine sogenannte False-Flag-Operation der Russen handelt, lässt sich zu diesem Zeitpunkt unabhängig nicht abschliessend überprüfen. Eliot Higgins, Gründungsmitglied der Investigativ- und Factchecking-Plattform Bellingcat, bezeichnete das Video auf Twitter als «sehr ernsten Vorfall, der weitere Untersuchungen erfordert.»
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Update vom 29. März: Die New York Times konnte den Schauplatz des Videos unabhängig lokalisieren. So soll das Video am östlichen Stadtrand von Charkiw, nahe der Frontlinie des Konflikts, gedreht worden sein. Ausserdem bestätigte die Zeitung, dass die Soldaten mit den blauen Armbinden Russisch mit ukrainischem Akzent sprechen, teilweise auch Ukrainisch. Die Kriegsgefangenen werden im Video nach dem Standort russischer Stellungen vor Charkiw sowie ihrem militärischen Grad und ihrer Funktion gefragt.
Ausserdem sei im Hintergrund ein Mann zu hören, der schreit, dass sie dies tun, weil «ihr Charkiw zerstört habt» – offenbar eine Anspielung auf die Zerstörungsaktionen der russischen Streitkräfte in der Stadt.
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Wenn das Video tatsächlich echt ist, würde es eine klare Verletzung der Genfer Konvention durch ukrainische Soldaten darstellen.
Die Genfer Konvention regelt die Behandlung von Kriegsgefangenen. Darin steht in den Artikeln zwei bis vier: «Alle Kriegsgefangenen müssen menschlich behandelt werden. Sie müssen vor Gewalt, Beleidigungen und Schaulustigen geschützt werden. Ihre Ehre und persönlichen Rechte müssen beachtet werden.»
Der ukrainische Präsidentenberater Olexij Arestowitsch wurde gestern in einem Interview mit dem ehemaligen russischen Oppositionspolitiker Mark Feygin auf das Video angesprochen und hatte angekündigt, dazu eine Untersuchung einzuleiten.
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In einer Ansprache auf seinem persönlichen Telegram-Kanal hatte Arestowitsch zudem betont: «Ich möchte hinzufügen, dass wir in einigen Gebieten eine Gegenoffensive gestartet haben, was bedeutet, dass es viele Kriegsgefangene geben wird. Ich möchte alle unsere militärischen und zivilen Verteidigungskräfte noch einmal darauf hinweisen, dass die Misshandlung von Kriegsgefangenen ein Kriegsverbrechen ist, für das es nach dem Militärrecht keine Amnestie gibt und das nicht verjährt.»
Einige Twitter-Nutzer, unter ihnen die Politkommentatorin Maria Dubovikova, sehen in Arestowitschs Statement die Bestätigung dafür, dass das Video echt sei. Wieso sonst müsste er am selben Tag der Publikation des Videos seine Soldaten massregeln, so Dubovikovas Überlegung.
Es gibt im Netz aber auch zahlreiche kritische Stimmen, die davon ausgehen, dass das Video gefälscht wurde. Die Twitter-Nutzerin Kimberly Pineda etwa weist darauf hin, dass einige der angeblich ukrainischen Soldaten dieselben Schuhe tragen wie die russischen Gefangenen:
Und die Twitter-Nutzerin Louise Mensch weist darauf hin, dass das blaue Armband eines angeblich ukrainischen Soldates viel breiter sei als normal. Als hätte er unbedingt sicherstellen wollen, dass man es auch ja als solches erkennt:
Andere Twitter-Nutzer wiederum argumentieren, dass die farbigen Bänder lediglich aus Klebeband bestehen, das sich die Soldaten selbst am Oberarm befestigen, und es sich dabei nicht um ein standardisiertes Uniform-Abzeichen handelt:
Falls es sich bei dem Video um ein Fake handelt, drängt sich die Frage auf, weshalb die russische Armee ihren eigenen Soldaten ins Knie schiessen würde. Die Twitter-Nutzerin Helen Maidre stellt die These auf, dass die angeblich ukrainischen Soldaten im Video tschetschenisch-russische Soldaten seien, die unter Kadyrow dienten. Sie hätten ein Exempel an russischen Deserteuren statuiert und gleichzeitig eine Desinformationskampagne in Gang gesetzt, indem sie sich als ukrainische Soldaten verkleidet hätten, die ein Kriegsverbrechen begehen.
Ein weiterer Hinweis darauf, dass das Video gefaked worden sein könnte, lieferte am Montag das internationale Hackerkollektiv Anonymous. Auf seinem Twitter-Account publizierte es ein angeblich geleaktes Dokument des russischen Verteidigungsministeriums vom 21. März. Darin sollen Soldaten dazu aufgefordert worden sein, Propaganda-Videos zu fabrizieren, die den ukrainischen Umgang mit russischen Kriegsgefangenen diskreditieren.
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Die Kontroverse, die das Video in den sozialen Medien ausgelöst hat, veranschaulicht exemplarisch, wie wichtig und gleichzeitig schwierig es ist, Bilder und Videos aus dem Krieg richtig einzuordnen. Eine Stellungnahme des ukrainischen Militärs, in der es den Vorfall bestätigt oder abstreitet, liegt bis jetzt nicht vor. Bisher veröffentlichte das ukrainische Militär Bilder russischer Kriegsgefangener vor allem dann, wenn sie vorbildlich behandelt wurden, etwa durch ukrainische Ärzte. In letzter Zeit mehrten sich auf Twitter jedoch Meldungen mutmasslicher Misshandlungen russischer Kriegsgefangener durch ukrainische Soldaten. Was an ihnen dran ist, werden Militärgerichte jedoch erst noch klären müssen.
Philippe Stalder, publiziert am 28. März 2022
Steht Selenski hier wirklich mitten in Kiew?
«Zeigt der Welt, wo ihr steht!» Genau einen Monat nach der russischen Invasion vom 24. Februar forderte der ukrainische Präsident Selenski am Donnerstag «alle freien Menschen dieser Erde» dazu auf, sich für die Freiheit, für den Frieden und damit – so seine Schlussfolgerung – auch für die Ukraine zu positionieren. In der Rede des ehemaligen Schauspielers steckt wie gewohnt ganz viel Pathos, seine Worte entfalten ihre Wirkung.
Um der Welt unmissverständlich zu zeigen, wo er selbst steht, stellte sich Selenski im Video demonstrativ vor seinen Regierungssitz in Kiew, im Hintergrund bewacht ein bewaffneter Soldat den Platz. Die visuelle Botschaft des Videos ist klar: «Ich habe keine Angst, ich bin noch immer hier, ich werde mich nicht vertreiben lassen.»
Das Video wurde in der Nacht auf Donnerstag auf sämtlichen digitalen Kanälen der ukrainischen Regierung publiziert, alleine im offiziellen Telegramkanal des Präsidenten wurde das Video seither knapp 5 Millionen Mal angeschaut.
Video weckt Zweifel
Doch bei genauerem Betrachten des Videos kommen Zweifel auf, ob Selenski tatsächlich auf offener Strasse vor dem Kiewer Regierungsgebäude steht: Selenskis Silhouette fügt sich nicht wirklich natürlich in den Hintergrund ein, die Beleuchtung ist komisch, und auf der Tonspur sind keine Hintergrundgeräusche zu hören.
Hat Selenskis PR-Team den Präsidenten etwa von einem sicheren Bunker aus mittels eines sogenannten Greenscreens in das Bild des Regierungsgebäudes hineingeschnitten? Anlässlich einer Rede, in der Selenski die Zuschauer dazu auffordert, der Welt zu zeigen, wo sie stehen?
Wir haben das Cybersecurity-Beratungsunternehmen Scip AG um eine fachmännische Einschätzung gebeten. Michèle Trebo, forensische Expertin bei Scip, und Marc Ruef, Leiter der Forschungsabteilung, haben das Video analysiert. Die Video-Experten erkennen mehrere Indizien, die darauf hindeuten, dass die Rede an einem anderen Ort aufgezeichnet worden sein könnte:
Fehlender Schattenwurf des Soldaten
Aufgrund des Lichts in Selenskis Gesicht dürfte links von ihm eine relativ helle warm-weisse Lampe (~3300 Kelvin) stehen. Diese müsste ebenfalls einen Einfluss auf den Schattenwurf des Soldaten im Hintergrund haben. Ein solcher bleibt jedoch aus. Ebenso fehlt der Schattenwurf der beiden Lampen, die direkt vor Selenski stehen und anhand der Reflexion in seinen Augen erkennbar sind.
Licht in Barthaaren fehlt
Das Licht im Hintergrund, das seine linke Wange streift, hat nicht den erwarteten Einfluss auf seine Barthaare. Das sogenannte volumetrische Schimmern sucht man in seinem Bart vergebens.
Verdächtiger Schnitt 1
Der Schnitt bei Minute 03:27 (im Originalvideo) ist sehr verdächtig. Der Schatten des Soldaten bewegt sich, da er seine Position ändert. Nach dem Cut steht er aber noch immer still an der alten Position.
Verdächtiger Schnitt 2
Der Schnitt bei Minute 06:24 (im Originalvideo) ist ebenfalls verdächtig. Der Soldat im Hintergrund verharrt in der gleichen Position. Dies bedeutet, dass dieser sogenannte Jump Cut kein echter Jump Cut, sondern lediglich ein nachträglich im Schnitt angefertigter Zoom ist.
Zudem hat dieser Jump Cut den sonderbaren Effekt, dass sich der Hals des Soldaten sofort nach links verschiebt. Das ist nur möglich, wenn der Schnitt aus zwei unterschiedlichen Aufnahmen stammt. Jedoch bleiben sowohl der Soldat als auch das pulsierende Licht (das linke in der Mitte zwischen den beiden) ihrer Kadenz treu. Es handelt sich beim Hintergrund also um dieselbe weitergeführte Aufnahme.
Keine Umgebungsgeräusche
Auf der Tonspur des Videos sind keine Umgebungsgeräusche zu hören. Dies ist nur dann möglich, wenn ein Richtmikrofon eingesetzt sowie Noise-Cancelling (Lärmunterdrückung) oder starke Kompression genutzt wurde. Ausserdem entspricht der Klangeffekt seiner Stimme, wie etwa der Hall, nicht der weitläufigen Strasse. Dies ist nur dann möglich, wenn ein zielgenaues Richtmikrofon oder ein Ansteckmikrofon verwendet wurde. Letztgenanntes kann jedoch nicht gesehen werden.
«Merkmale deuten auf Greenscreen hin»
Aufgrund der oben genannten Indizien gehen Trebo und Ruef davon aus, dass das Video «eher fabriziert» ist, also eher nicht vor Ort aufgezeichnet wurde. «Es gibt einfach ein paar Merkmale zu viel, die auf die Verwendung eines Greenscreens hindeuten», so Ruef. Die Konturen seien sehr gut bearbeitet worden, vor allem bei Selenskis Haar und Bart. «Eine gerichtsverwertbare Analyse würde jedoch mehrere Tage oder gar Wochen dauern», betont der Videoforensiker.
Generell sei es risikotechnisch unsinnig, sich in einem Kriegsgebiet auf offener Strasse zu inszenieren, so Ruef. Eine Aufnahme an einem sicheren Ort wäre in jedem Fall zu bevorzugen, würde aber natürlich nicht dieselbe heroische Motivation erzeugen.
Philippe Stalder, publiziert am 25. März 2022
Bilder und Videos: Adrian Panholzer
Mit Tinder und gehackten Druckern gegen Moskaus Zensur
Um die öffentliche Wahrnehmung im Territorium des Gegners zu beeinflussen und die Moral der Soldaten zu brechen, warfen sämtliche Parteien im Zweiten Weltkrieg mit Flugzeugen, Ballonen und Kanonen Propaganda hinter feindlichen Linien ab. Die Flugblätter beinhalteten von Gedichten über Pin-up-Girls bis hin zu Karikaturen von Generälen so ziemlich alle Tricks der damaligen psychologischen Überredungskunst.
Heute, 77 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, verfolgen solche Propagandaaktionen im Krieg noch immer denselben Zweck, erfolgen jedoch meist digital – und entbehren dabei nur selten der Kreativität. Das jüngste Beispiel dazu lieferte Anfang Woche das internationale Hackerkollektiv Anonymous: Im Rahmen einer grossangelegten Cyberattacke hackte Anonymous nach eigenen Angaben Hunderte Drucker in ganz Russland und druckte darauf aus der Entfernung über 100’000 Flugblätter aus.
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Die Flugblätter waren auf Russisch verfasst und gaben Anti-Kriegs-Botschaften wieder oder enthielten Instruktionen dazu, wie die Zensur im russischen Internet durch sogenannte TOR-Browser umgangen werden kann. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurden in Russland die Internetseiten von Facebook, Twitter, BBC News, Deutsche Welle, Bellingcat, Amnesty International und vielen mehr blockiert. Die russische Bevölkerung soll so von nicht kremlkonformen Fakten und Perspektiven abgeschottet werden.
Weiter heisst es auf den Flugblättern: «Präsident Wladimir Putin, der Kreml und die russischen Medien haben dich über die Invasion belogen. Putin tötet Tausende Menschen in der Ukraine, auch Zivilisten. Bürger Russlands, handelt jetzt.» Wie die Flugblätter in Russland rezipiert wurden und ob sie tatsächlich in der angegebenen Auflage gedruckt wurden, lässt sich unabhängig nicht überprüfen.
Make Tinder, Not War
Ein anderes Beispiel für die Verteilung digitaler Anti-Kriegs-Flugblätter in Russland stellt die Special-Love-Operation dar, eine nach eigenen Angaben unabhängige Gruppe von Kreativen. Da einem auf Tinder potenzielle Partner aus der Umgebung angezeigt werden, ruft die Special-Love-Operation Tinder-Nutzer aus aller Welt dazu auf, russische Städte als Standort auf der Dating-App anzugeben. Dies ist durch die zahlungspflichtige Verwendung des Tinder-Reisepasses möglich, womit Urlaubsflirts schon vor der Abreise aufgegleist werden können.
Flugblätter 2.0: Ein Nutzer präsentiert auf seinem Tinder-Profil Kriegsbilder. Quelle: Special Love Operation
Mit diesem Trick können russische Singles über die Profilbilder nun mit Informationen zum Krieg versorgt werden, die sie im russischen Staats-TV nicht zu sehen bekommen. So werden ukrainische Tinder-Nutzer etwa dazu aufgefordert, Selfies von einem Kriegsschauplatz auf ihr Tinder-Profil hochzuladen. Nutzer anderer Länder können Bilder aus einer von der Special-Love-Operation vorgefertigten Galerie auswählen, die das Ausmass der Zerstörung der zivilen Infrastruktur in der Ukraine zeigen.
SMS-Roulette
Ein weiteres Tool, um den digitalen eisernen Vorhang des Kreml zu durchbrechen, stellt die von der polnischen Hackergruppe Squad303 erstellte Internetseite sms.1920.in dar. Darauf können Nutzer per Zufallsgenerator russische E-Mail-Adressen und Handynummern kontaktieren, entweder mit vorgefertigten oder selbst erstellten Anti-Kriegs-Botschaften.
Kontaktaufnahme per Zufallsgenerator: Screenshot der Internetseite sms.1920.in.
Die Hackergruppe hat nach Angaben des «Wall Street Journal» über 140 Millionen E-Mail-Adressen und rund 20 Millionen Telefonnummern aus russischen Datenbanken gehackt. Die Empfänger der Nachrichten sollen dazu aufgefordert und instruiert werden, die Zensur von unabhängigen Nachrichtenplattformen in Russland zu umgehen.
Die vorgefertigten Texte beginnen oft mit Höflichkeitsfloskeln und enden in der Regel mit einer Frage, wie es der Person, die den Text empfängt, inmitten des Krieges geht. Auf Beleidigungen und Hassreden wird bewusst verzichtet. Die Website ist recht einfach zu bedienen und erfordert keine Russischkenntnisse. Die Nutzer erhalten zufällig eine russische Nummer zugeteilt, die sie beliebig oft aktualisieren können.
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Gemäss Squad303 wurden bereits über 20 Millionen Nachrichten versendet. Unabhängig überprüfen lässt sich diese Angabe zwar nicht, jedoch soll die russische Regierung bereits auf die Aktion aufmerksam geworden sein und versucht haben, die vorgefertigten Texte zu blockieren, wie die Hackergruppe auf Twitter mitteilte.
Philippe Stalder, publiziert am 24. März 2022
Fake-Video hetzt gegen ukrainische Flüchtlinge in Deutschland
Erst spricht sie nur besorgt, bald schon kullern die Tränen: Auf ihrem Tiktok-Account veröffentlichte eine russischsprechende Frau am Wochenende ein Video, in dem sie um einen Daniel trauert, einen 16-jährigen Jungen offenbar, der angeblich in einem Flüchtlingsheim arbeitet und vor kurzem in Euskirchen bei Bonn von einem Mob ukrainischer Flüchtlinge zu Tode geprügelt worden sein soll.
Sein einziges Vergehen? Er habe in der Öffentlichkeit Russisch gesprochen. In ihrem Video behauptet die Frau, Daniel sei zunächst auf der Intensivstation gelandet, dort ins Koma gefallen und später verstorben.
Das Video wurde in den letzten Tagen tausendfach geteilt, unter anderem auch von Alina Lipp, einer 28-jährigen Deutschen, die in ihrem Telegram-Kanal «Neues aus Russland» kremlkonform aus dem Donbass berichtet:
Allein in Lipps Kanal wurde das Tiktok-Video über den angeblichen Mord durch ukrainische Flüchtlinge über 138’000-mal angeschaut. Das Problem daran: Der Polizei Bonn liegen keine Informationen über einen solchen Vorfall in Euskirchen vor, wie der Twitter-Account Polizei NRW BN am Sonntag verlautbarte.
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Das ist nun auch der Urheberin des Fake-Videos aufgefallen. Sie hat das Video mittlerweile auf Tiktok gelöscht und dafür ein neues hochgeladen, in dem sie sich für die Falschinformation entschuldigt und erklärt: «Ich bin reingelegt worden und einem Mann aufgesessen, der die Ukrainer einfach hasst und mit dieser Story alles noch verschlimmern wollte.» Sie sei durch die Story so aufgewühlt gewesen, dass sie sich nicht weiter informiert habe.
Staatsschutz ermittelt
Ob diese Version tatsächlich stimmt oder ob das Video von ihr bewusst zur Stimmungsmache verbreitet wurde, wird derzeit vom Staatsschutz geklärt. Was auf eine orchestrierte Aktion hindeuten könnte: Noch am selben Tag der Veröffentlichung des Videos gab es einen entsprechenden Beitrag auf der Seite der Federal News Agency, die zum Firmenkonstrukt der St. Petersburger Trollfabrik Internet Research Agency gehört.
Obwohl das originale Video gelöscht wurde, kursieren noch immer zahlreiche Kopien im Netz. Einmal in Gang gesetzt, ist es praktisch unmöglich, die Verbreitung von Falschmeldungen in den sozialen Medien zu stoppen. Um ihre Propaganda zu streuen, setzen deswegen beide Seiten im Ukraine-Konflikt auf die Effizienz und Effektivität sozialer Medien. Denn durch die Teilen-Funktion können sich Falschmeldungen und Fake-Videos dort wie ein Lauffeuer verbreiten. Und bevor jemand die Falschmeldungen entlarven kann, wurden sie oft schon zehntausendfach rezipiert.
Eine neue Studie der Universität Konstanz untersuchte die Frage, ob gewisse Personengruppen in Deutschland anfälliger für propagandistische Erzählungen sind. Die Autoren kamen zum Schluss, dass die Faktoren geringes politisches Wissen, geringes Vertrauen in die Regierung, generelle Entfremdung von der Politik und Unzufriedenheit mit der Demokratie die Anfälligkeit für Propaganda erhöhen.
Philippe Stalder, publiziert am 23. März 2022
Das Rätsel um die 10'000 toten russischen Soldaten
Normalerweise liegt die grösste russische Tageszeitung «Komsomolskaja Prawda» in der Berichterstattung über die Ukraine ganz auf Kreml-Linie. Redaktoren schreiben über «Fanatiker und Henker in der Ukraine», die das russische Volk unterdrückten, über Hilfslieferungen für die von ukrainischem Beschuss getroffene Bevölkerung oder über zerstörte ukrainische Stellungen. Von russischen Niederlagen ist keine Rede.
Am Sonntag tauchten in einem Artikel aber überraschenderweise Angaben über eigene Verluste auf:
«Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums haben die russischen Streitkräfte während der Sonderoperation in der Ukraine 9861 Tote und 16153 Verwundete zu beklagen.»
Stunden nach der Publikation verschwand der ganze Text von der Internetseite der Zeitung. Seitdem ist der Artikel wieder abrufbar – aber ohne die ursprünglich publizierten Opferzahlen. Dafür mit einer Notiz der Redaktion:
«Am 21. März wurde der Zugriff auf die Administratoroberfläche der Website Komsomolskaya Pravda gehackt und in dieser Veröffentlichung wurde ein gefälschter Inhalt über die Situation rund um die Sonderoperation in der Ukraine eingefügt.»
Die ursprüngliche Fassung lässt sich auf der Archivierungsplattform Webarchive nachlesen. Eine Manipulation des Artikels durch pro-ukrainische Hacker ist zwar nicht ausgeschlossen. Seit Beginn der russischen Invasion haben sich zahlreiche Gruppierungen zusammengeschlossen, um gegen Russland einen Cyberkrieg zu führen – darunter das berüchtigte Anonymous-Kollektiv. Dagegen spricht jedoch, dass die Hacker nicht die ukrainischen Angaben übernommen haben, was den offiziellen Angaben der Ukraine mehr Glaubwürdigkeit verschafft hätte.
Grosse Unterschiede bei den Opferzahlen
Die bisherigen Angaben der russischen Regierung liegen wesentlich tiefer als die knapp 10'000 Toten, die im Boulevardblatt genannt wurden. Am 2. März veröffentlichte das russische Verteidigungsministerium zum ersten und bislang einzigen Mal konkrete Angaben über eigene Verluste. Demnach seien bis anhin in der Ukraine 498 Soldaten getötet und 1597 verwundet worden. Zum gleichen Zeitpunkt beziffert das ukrainische Militär die Zahl der getöteten russischen Soldaten auf 5840. Nach US-Angaben waren es zwischen 1500 und 2000. Welche Angaben der Wahrheit entsprechen, lässt sich nicht unabhängig überprüfen.
Seither gab es von russischer Seite keine Angaben zu eigenen Verlusten mehr. Das ukrainische Verteidigungsministerium beziffert die Zahl der getöteten und verwundeten russischen Soldaten im aktuellen Report auf Facebook mit 15’300. Schätzungen westlicher Geheimdienste gehen von zwischen 3000 und 10’000 getöteten russischen Soldaten aus.
Verluste als Propaganda
Angaben über gefallene Soldaten und getötete Zivilisten werden in Kriegen von allen beteiligten Parteien als Propagandamittel eingesetzt. «Propaganda ist nicht nur gegen aussen gerichtet, sondern auch an die eigene Bevölkerung und die Mitglieder der Streitkräfte», sagt der Universitätsprofessor und Autor Alejandro Pizarroso Quintero gegenüber der spanischen Tageszeitung «El Pais». Eigene Opferzahlen werden niedriger angegeben und die Verluste der Gegenseite übertrieben, um die Truppenmoral hochzuhalten und der eigenen Bevölkerung die wahren Kosten des Krieges zu verschleiern
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«Jeder Ukrainer mit einem Smartphone ist unser Assistent im Kampf gegen den Invasoren»: Der ukrainische Geheimdienst verbreitet Bilder von zerstörtem russischem Kriegsgerät.
Zudem stammen Opferzahlen grundsätzlich von staatlichen Stellen wie Geheimdienst, Zivilschutz oder Verteidigungsministerium und sind damit kaum unabhängig überprüfbar. Internationale Gremien wie die OSZE oder die UNO sowie Nichtregierungsorganisationen erhalten meist nur eingeschränkten Zugang zum Kriegsgeschehen und können die Verluste in Armee und Zivilbevölkerung nur lückenhaft dokumentieren. Diese Zeitung publiziert Angaben zu Opferzahlen darum zurückhaltend.
Auf russischer Seite wird der Krieg in der Ukraine als «Spezialoperation» zur «Denazifizierung» und zum Schutz der russischsprachigen Bevölkerung verkauft. Das Narrativ einer Anti-Terror-Operation lässt sich nur aufrechterhalten, wenn die Opferzahlen entsprechend tief sind. Sterben Tausende Soldaten, dann dürfte die Unterstützung in der Bevölkerung für den Krieg rasch schwinden. Dasselbe gilt auch für die Zahl getöteter ukrainischer Zivilisten.
Ukrainische Stellen veröffentlichen ihrerseits massenweise Videos und Bilder von erfolgreichen Gefechten und von gefangenen russischen Soldaten. So werden die eigenen Truppen als besonders wehrhaft und der Gegner als schwach und desorganisiert dargestellt. Informationen über eigene Verluste werden hingegen keine publiziert.
Hannes von Wyl, publiziert am 22.3.2022
Kinschal-Rakete und Vakuumbombe: Russlands bedrohliche Waffen
Immer mehr Meldungen und Videos sollen Russlands Einsatz zweier Waffensysteme mit grosser Zerstörungskraft gegen die Ukraine belegen.
Zum einen tauchten am Samstag Aufnahmen eines TOS-1-Mehrfachraketenwerfers auf, der sogenannte thermobare Sprengköpfe abschiessen kann. Diese verteilen beim Aufschlag eine brennbare Substanz, die sich durch die Explosion entzündet und so grosse Gebiete zusätzlich verbrennt. Der Explosionsdruck verdrängt die Luft schlagartig, wodurch ein Unterdruck entsteht (daher werden thermobare Sprengköpfe auch als Vakuumbombe bezeichnet). Der Unterdruck saugt dann die Luft mit der brennenden Flüssigkeit zurück ins Explosionszentrum und verursacht erneut massive Schäden. Thermobare Waffen wurden von Russland in Afghanistan und in Syrien und von den USA gegen die Taliban eingesetzt.
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Die Videos zeigen den Abschuss mehrerer Geschosse in einem Feld neben einer Strasse. Es kursieren mehrere Versionen, unter anderem wurden die Aufnahmen vom staatlich kontrollierten TV-Sender Russia Today RT verbreitet. Bislang gibt es keine bestätigten Informationen über Zeitpunkt und Ort des Abschusses. Der Pressedienst der Separatisten in der ostukrainischen Region Donezk nennt Mariupol als Ziel der Attacke. «Die Volksmilizen der Volksrepublik Donezk als Hilfe der russischen Streitkräfte überwältigen die verstärkten Positionen der ukrainischen Nationalisten rund um Mariupol mit TOS-1a-Waffen», sagt ein Sprecher aus dem Off zu Aufnahmen desselben Abschusses.
Ein mögliches Indiz für den angeblichen Beschuss der eingekesselten Hafenstadt liefern Satellitenbilder von Nasa und EU, die am Samstag mehrere Hitzefelder auf dem Stadtgebiet zeigen. Diese können durch den Einsatz von thermobaren Waffen verursacht worden sein – aber auch durch Beschuss von Artillerie und ballistischen Raketen.
Sollten die am Wochenende des 19. und des 20. März publizierten Aufnahmen aktuell sein und den Beschuss von ukrainischem Gebiet zeigen, würden sie den Einsatz von TOS-1-Waffensystemen erstmals im Video belegen. Russland soll jedoch schon früher thermobare Waffen in der Ukraine eingesetzt haben. Diesen Vorwurf hatte die ukrainische Botschafterin in den USA, Oksana Markarowa, am 9. März gegenüber amerikanischen Abgeordneten erhoben. Das britische Verteidigungsministerium hatte gleichentags auf Twitter behauptet, das russische Verteidigungsministerium habe den Einsatz von TOS-1-Werfern bestätigt. Von russischer Seite gibt es dafür bislang keine Bestätigung. Gemäss den Genfer Konventionen ist der Einsatz von Brandwaffen gegen Zivilisten verboten. Der Einsatz könnte also ein Kriegsverbrechen sein.
Dass sich solche Waffensysteme in der Ukraine befinden, legen Bilder von CNN-Reporter Frederik Pleitgen vom 26. Februar 2022 nahe. Sie zeigen den Transport eines TOS-1-Raketenwerfers südlich von Belgorod, nahe der russisch-ukrainischen Grenze.
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Die Beobachtermission der OSZE hatte schon 2015 ein TOS-1 in der von Separatisten kontrollierten Umgebung von Luhansk im Osten der Ukraine gesichtet.
Der fliegende Dolch
Neben thermobaren Waffen soll Russland am Wochenende erneut eine Überschallrakete vom Typ Kinschal eingesetzt haben. Am Sonntag liess der Sprecher des russischen Verteidigungministeriums, Igor Konaschenkow, verlauten, man habe mit einer über der Krim abgefeuerten Kinschal-Rakete ein ukrainisches Treibstofflager zerstört. Michailo Podoliak, ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski, bestätigte auf Twitter den Einsatz der Überschallwaffe.
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Dies soll das zweite Mal sein, dass die russischen Streitkräfte «Kinschal» eingesetzt haben. Am Freitag soll eine solche Rakete bereits ein Waffen- und Munitionsdepot im Westen der Ukraine zerstört haben, teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Zwar bestätigte die ukrainische Luftwaffe am Samstag den Angriff auf die Anlage in Deljatin. Ob es sich dabei um eine Kinschal-Rakete gehandelt hatte, konnten weder ukrainische noch US-Stellen bestätigen.
Das Waffensystem Kinschal (russisch für «Dolch») bezeichnet eine rund sieben Meter lange Rakete, die von Kampfjets des Typs MiG-31 abgefeuert werden kann. Sie kann aufgrund der Fluggeschwindigkeit von bis zu Mach 10 (zehnfache Schallgeschwindigkeit, ca. 12’300 Kilometer pro Stunde) nur schwer abgefangen werden und kann mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden.
Das US-Pentagon sieht im Einsatz von thermobaren Waffen und Überschallraketen eine Eskalation der militärischen Mittel aufgrund des stockenden Fortschritts der Bodentruppen. Bilder, die angeblich russische Schützengräben zeigen, könnten darauf hinweisen, dass der ursprünglich geplante schnelle Vorstoss auf die ukrainischen Grossstädte zumindest an manchen Fronten zu einem Stellungskrieg mutiert. Der amerikanische Thinktank ISW geht davon aus, dass eine länger dauernde Pattsituation am Boden «sehr brutal und blutig» ausfallen werde.
Hannes von Wyl, publiziert am 21.3.2022
Sabotage soll russischen Nachschub auf Schienen verhindern
Mehrere Männer in Tarnuniformen schleppen Holzkisten unter eine Brücke. Das blaue Band an ihren Oberarmen identifiziert sie als Mitglieder der ukrainischen Armee. Die Farbe Blau verrät zudem, dass das Video nicht mehr als ein paar Tage alt sein kann. Bis vor kurzem trugen die Soldaten noch gelbe Armbinden. Die Männer sind auf einem Video zu sehen, das viral ging. Ihre Gesichter wurden unkenntlich gemacht. Sie füllen die Kisten mit Sprengstoff, deponieren sie dann unter einer Eisenbahnbrücke, schliessen Zündkabel an. Zum Schluss des etwas über eine Minute langen Videos wird die Brücke gesprengt.
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Das Video ist unter anderem auf den Twitter-Seiten des weissrussischen oppositionellen TV-Kanals Nexta und in ukrainischen Medien zu sehen. Dort wird erklärt, dass Mitglieder des ukrainischen Asow-Bataillons die Brücke einer Bahnlinie aus Russland in die Ukraine sprengten. Damit soll verhindert werden, dass die in der Ukraine kämpfenden russischen Truppen Nachschub per Bahn bekommen. Weder der Ort wird genannt noch die genaue Zeit.
Einige Details im Video lassen allerdings Zweifel aufkommen, dass tatsächlich in den vergangenen Tagen ein Anschlag auf eine Bahnlinie nahe der russischen Grenze verübt wurde: Zweigleisige, elektrifzierte Eisenbahnstrecken gibt es zwischen der Ukraine und Russland laut Plan nur wenige und einige davon sind in den seit 2014 von prorussischen Separatisten besetzten Gebieten.
Zudem werden in dem Video die Sprengladungen am helllichten Tag angebracht, was an oder nahe der Front doch sehr ungewöhnlich erscheint. Ausserdem hatte die Internetzeitung «Ukrainska Prawda» bereits zwei Tage nach Kriegsbeginn, am 26. Februar, gemeldet, dass alle Bahnverbindungen zwischen Russland und der Ukraine zerstört seien. Dass das neue Video der angeblichen Brückensprengung an einem anderen Ort inszeniert oder auf eine andere Art manipuliert wurde, kann also zumindest nicht ausgeschlossen werden.
Dennoch häufen sich nun die Meldungen über Anschläge auf Bahnlinien, um den russischen Vormarsch zumindest zu verlangsamen. Zuletzt meldete sich eine Gruppe die sich Bypol nennt und nach ihrer Selbstdarstellung aus ehemaligen Mitglieder des weissrussischen Sicherheitsapparats besteht, die mit dem Regime von Alexander Lukaschenko gebrochen haben. Bypol behauptet in einem Youtube-Video, man habe durch Anschläge auf Signale und andere Bahneinrichtungen den Schienenverkehr zwischen Belarus und der Ukraine komplett lahmgelegt. Damit könnten die Russen ihr Militär auch nicht über den Umweg über das Nachbarland versorgen oder verstärken.
Auch der Berater der Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, jubelt auf Twitter über jene «Helden» unter den weissrussischen Bähnlern, die die Bahnverbindungen in die Ukraine unterbrochen hätten.
Der Chef der ukrainischen Eisenbahnen «Ukrzaliznytsia», Olkesandr Kamyschin, bestätigt die Sabotage in einem Interview. Andere, unabhängige Bestätigungen für die Anschläge auf die weissrussische Schieneninfrastruktur gibt es nicht. Die US-Nachrichtenagentur Bloomberg berichtet allerdings über signifikante Probleme der Russen beim Nachschub ins Kriegsgebiet. Das zeigt sich exemplarisch auch am kilometerlangen vor Kiew steckengebliebenen Lastwagen-Konvoi. Dieser soll die Angriffstruppen mit Munition, Nahrung und Treibstoff versorgen, hat aber mit mechanischem Versagen und Angriffen durch ukrainische Truppen zu kämpfen.
In der Ukraine selbst ist die Bahn hingegen weiterhin das Rückgrat für die Beförderung von Personen und Güter. Und vor allem des Flüchtlingstransports. Die Ukrainische Bahn hat dafür eine eigene Homepage online gestellt, auf dem tagesaktuell die Zugabfahrten aus den Kriegsgebieten in den Westen des Landes angeschrieben werden. Fast zweieinhalb Millionen Menschen hat die Bahn bisher die Flucht in den Westen ermöglicht.
Zu den regelmässigen Passagieren im Land soll auch der Chef der 230'000 Bähnlerinnen und Bähnler gehören: Oleksandr Kamyschin ist 37 Jahre alt und ständig auf Achse, im wahrsten Sinne des Wortes. Weil er glaubt, dass er auf einer russischen Todesliste stehe, ist der Bahnchef nie lange an einem Ort, wie er der britischen BBC erzählt. Oft finden die Besprechungen mit seinen engsten Vertrauten im fahrenden Zug statt. Wohin dieser fährt, muss jedoch stets geheim bleiben.
Bernhard Odehnal, publiziert am 21.3.2022
Was ist dran am Maulwurf aus Moskau?
Sie zeichnen ein detailliertes Innenbild des russischen Machtapparats, geprägt von Misstrauen, Leistungsdruck, Paranoia und Intrigen: die Briefe von «Wind of Change», einer Person oder einer Personengruppe, die angeblich sensible Informationen und pikante Einschätzungen zum Krieg aus dem innersten Kreis des russischen Inlandgeheimdiensts FSB offenlegt.
Veröffentlicht wurden die Briefe vom russischen Menschenrechtsaktivisten Wladimir Osetschkin, der aus dem französischen Exil heraus das Gulag-Projekt betreibt, eine NGO, die nach eigenen Angaben systematische Folter und Korruption im russischen Strafvollzug aufdeckt und öffentlich dokumentiert.
Die auf Russisch verfassten Briefe publizierte Osetschkin ab dem 4. März in der Telegram-Gruppe des Gulag-Projekts. Zwei Tage später begann der russisch-amerikanische Rennfahrer Igor Sushko, die Briefe auf Englisch zu übersetzen, und publizierte sie auf seinem Twitter-Account:
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Seither kursieren die Inhalte auch im englischsprachigen Raum, alle zwei bis drei Tage erscheint ein weiterer Brief.
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Ein Maulwurf in Moskau – was ist da dran? Ob die Briefe tatsächlich echt sind, kann nicht abschliessend geklärt werden. Grundsätzlich ist es möglich, dass die Briefe Teil einer ukrainischen Desinformationskampagne sind, die darauf abzielt, die Moral der russischen Soldaten in der Ukraine zu schwächen und Misstrauen unter den Geheimagenten in Moskau zu streuen.
FSB-Quellen: «Keine Zweifel» an Echtheit
Es gibt jedoch eine Reihe von Indizien, die dafür sprechen, dass die Briefe echt sein könnten. Christo Grozev, Journalist bei der Investigativ- und Factchecking-Plattform Bellingcat, hat den Inhalt des ersten Briefs zwei seiner Kontaktpersonen beim FSB gezeigt. Beide hätten «keine Zweifel» daran gehabt, dass der Brief aus der Feder eines russischen Agenten stamme – auch wenn sie nicht mit allen Darstellungen von «Wind of Change» einverstanden waren.
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Grozev fügt an, dass er Osetschkin, der die Briefe veröffentlicht hat, für eine reputable Quelle hält. Zudem würden die Länge und die Detailtreue der Briefe gegen eine sogenannte Psy-Op sprechen, also eine Aktion aus der psychologischen Kriegsführung, da Fälscher solche Texte in der Regel kurz halten, um das Risiko zu minimieren, Fehler zu machen und dadurch aufzufliegen.
Grozevs Quellen beim FSB sind mit einigen Schlussfolgerungen in den Briefen nicht einverstanden, was ausserdem darauf hindeutet, dass auch persönliche Ansichten des Verfassers in die Analysen mit eingeflossen sind, die nicht der Auffassung des gesamten FSB entsprechen müssen.
Dass die Briefe aus dem FSB stammen, ist «sehr wahrscheinlich», wie Grozev auf Anfrage dieser Redaktion bestätigt. Sie müssten jedoch mit viel Vorsicht gelesen werden, da der FSB «nicht über alle Vorgänge im Kreml Bescheid» wisse und zudem einen Hang zu «unerhört konspirativen Erzählformen» habe.
Was offenbaren die Briefe denn überhaupt?
Im ersten Brief beschreibt «Wind of Change» zunächst einmal das Betriebsklima im FSB. Der Whistleblower schreibt von steilen Hierarchien und einem omnipräsenten Leistungsdruck, Analysen so zu fabrizieren, dass deren Ergebnisse die Vorgesetzten positiv stimmt. Das werde auf jeder Hierarchiestufe praktiziert, wodurch Analysen, bis sie oben angelangten, meist stark beschönigt seien. Mit verheerenden Folgen für die Einschätzung der Invasion in die Ukraine.
«Niemand im FSB wusste vom Krieg»
So habe im FSB niemand Bescheid gewusst, dass es sich bei der Invasion um ein reales Szenario handle. Da der FSB offenbar von einer Übungsaufgabe ausging, seien die Analysen zur Umsetzbarkeit der Invasion beschönigt worden, was Putins Offiziere dazu verleitet habe, auf einen Blitzkrieg zu setzen. «Der, wie wir jetzt alle wissen, so nicht umgesetzt werden konnte, da die ukrainische Gegenwehr und Moral viel stärker ausfiel als erwartet», so der angebliche Whistleblower. Offenbar hätten die russischen Offiziere tatsächlich geglaubt, dass die Ukrainer sie mit offenen Armen empfangen würden.
«Wind of Change» beschreibt ausserdem, dass der russische Kriegsplan überhaupt nicht durchdacht sei, dass man z.B. noch gar nicht wisse, wen man im Falle eines Sieges nach Selenski installieren solle, um die Ukraine entlang russischer Interessen zu führen. Russlands derzeitige Position im Krieg wird in den Briefen mit der ausweglosen Position von Nazideutschland 1943–1944 verglichen mit dem Unterschied, dass der Krieg von Russland eben erst gestartet wurde. Das russische «Z» könnte eines Tages mit dem Hakenkreuz gleichgesetzt werden, so die Befürchtung.
Zu Putin sagt «Wind of Change», dass er mittlerweile den Bezug zur Realität verloren habe. Er isoliere sich in seinem Bunker und tausche sich nur noch mit einem engen Kreis von Beratern und Vertrauten aus, die sich teilweise ebenfalls nicht trauten, den Oberbefehlshaber mit der Realität zu konfrontieren. Ausserdem gebe es im FSB Gerüchte, dass er sich in letzter Zeit der Mystik verschrieben habe und sich mit Schamanen aus dem Norden treffe.
Oppositionelle Fraktion im russischen Machtapparat
Die Briefe gehen des Weiteren detailliert auf Russlands Rolle in der globalen Geopolitik ein, von einem sich anbahnenden Handelskrieg zwischen den USA und China ist ebenso zu lesen wie von Russlands Problemen im Syrien-Krieg. Eine ausführliche Besprechung der Inhalte würde den Rahmen dieses Beitrags allerdings sprengen. Die Haupterkenntnis, wenn man den Briefen denn Glauben schenken will, liegt abschliessend wohl darin, dass es im russischen Machtapparat eine oppositionelle Fraktion gibt, die Putins Regime und dem Krieg kritisch gegenübersteht.
Osetschkin selbst beschreibt seinen Kontakt mit dem Whistleblower im Gespräch mit dieser Redaktion als eine Art Brieffreundschaft, die ihren Ursprung im Oktober 2021 hat, also einige Monate bevor sich eine Invasion der Ukraine abzeichnete. «Ursprünglich kontaktierte mich ‹Wind of Change›, weil der Whistleblower mich mit internen Informationen zur systematischen Anwendung von Folter im russischen Strafvollzug versorgen wollte», sagt Osetschkin. «Ich gehe davon aus, dass ‹Wind of Change› unzufrieden mit dem Putin-Regime ist und aus einer patriotischen Motivation handelt.»
Philippe Stalder, publiziert am 17.3.2022
Deepfake-Video von Selenski verkündet angebliche Kapitulation
In sozialen Medien kursiert ein Video, in dem angeblich der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski zur Kapitulation aufruft. «Mein Rat an euch ist, die Waffen niederzulegen und zu euren Familien zurückzukehren. Es lohnt sich nicht, in diesem Krieg zu sterben», sagt die Person, die in einem grünen Shirt an einem Tischchen mit dem Emblem der ukrainischen Armee steht.
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Dabei handelt es sich um ein sogenanntes Deepfake-Video. Dabei werden Videosequenzen mithilfe von künstlicher Intelligenz so manipuliert, dass sie beliebige Inhalte wiedergeben und dabei täuschend echt wirken können.
Das gefälschte Selenski-Video wurde vom Facebook-Konzern Meta entfernt. Selenski selber antwortete mit einem eigenen Video auf die Fälschung, das vom offiziellen Twitter-Kanal des ukrainischen Verteidigungsministerium verbreitet wurde. «Wir sind zu Hause und verteidigen die Ukraine», sagt Selenski. «Wir werden unsere Waffen nicht niederlegen.»
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Dass es sich um ein Deepfake-Video und nicht um eine echte Aufnahme handelt, lässt sich an mehreren Details erkennen:
Selenskis Stimme klinge tiefer und langsamer als gewöhnlich, sagt ein Übersetzer, der für den TV-Sender Sky News arbeitet.
Die Faktencheck-Plattform Snopes stellt fest, dass der Kopf des angeblichen Selenski nicht so richtig auf den Körper zu passen scheint.
Ein direkter Vergleich des Deepfake-Videos mit einer echten Aufnahme zeigt deutlich, dass Kopf und Körper unterschiedliche Proportionen aufweisen.
Die angebliche Kapitulationsverkündung tauchte laut einem Digitaljournalisten zuerst auf der Seite der russischsprachigen, ukrainischen Boulevardzeitung «Sewodnja» auf. Die Mitteilung wurde auch während einer Sendung des TV-Senders Ukraine 24 in einer Einblendung verbreitet. Der Sender teilte danach auf Facebook mit, dass ihre Systeme und die Website gehackt worden seien.
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Das gefälschte Video erschien, gut zwei Wochen nachdem das ukrainische Zentrum für strategische Kommunikation und Informationssicherheit genau vor diesem Fall gewarnt hatte. In einer Mitteilung auf Facebook vom 2. März schreibt die Behörde: «Stell dir vor, Wolodimir Selenski verkündet im TV die Kapitulation. Du siehst es, du hörst es – also ist es wahr. Aber es ist nicht die Wahrheit. Das ist Deepfake-Technologie.»
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Hannes von Wyl, publiziert am 17.3.2022
Protest im russischen TV: Viel Anerkennung, aber auch kritische Fragen im Netz
Nur sechs Sekunden lang konnte sie ihre Botschaft im russischen Fernsehen zeigen. Lange genug, um sie weltberühmt zu machen. Am Dienstag, 14. März, stürmte Marina Owsjannikowa, eine Mitarbeiterin des russischen Ersten Fernsehkanals, während der Nachrichtensendung «Wremja» ins Studio und hielt ein Plakat mit Losungen gegen den Krieg in die Kamera.
Owsjannikowa wurde sofort verhaftet. In den sozialen Medien tauchte danach ein offenbar von ihr selbst aufgenommenes Video auf, in dem sie ihre Motive für den Protest erklärt: Sie macht Wladimir Putin für die russische Aggression gegen die Ukraine verantwortlich, sie schäme sich, dass sie selbst für die Kremlpropaganda arbeite.
Nicht nur auf Twitter, Facebook oder Telegram wurde Owsjannikowa daraufhin für ihren ausserordentlichen Mut gefeiert. Selbst der ukrainische Präsident Selenski bedankte sich bei der Russin für ihre Protestaktion. Am Abend nach ihrem Auftritt verschwand Owsjannikowa, offenbar wurde sie im Fernsehgebäude festgehalten und von der Polizei befragt.
Am nächsten Tag tauchte sie mit ihrem Anwalt vor einem Moskauer Bezirksgericht wieder auf und konnte vor den wartenden Journalistinnen und Journalisten noch eine kurze Erklärung abgeben. Für ihr Video, in dem sie ihren Protest erklärte, muss sie 30’000 Rubel Strafe (rund 250 Franken) zahlen. Nach einem neuen Gesetz hätte sie schon für die Verwendung des Wortes «Krieg» zu bis zu 15 Jahren Haft verurteilt werden können.
Proteste gegen den Krieg gab es in russischen Städten auch vor Owsjannikowas Aktion. Sie fanden auf der Strasse vor wenig bis keinen Zusehern statt. Trotzdem wurden die Beteiligten von der Polizei geprügelt und verhaftet. Seither hat man nichts mehr von ihnen gehört. Dass Owsjannikowa vor einem Millionenpublikum protestieren und dennoch von einem totalitären Staat vorerst sehr schonend behandelt wurde, wurde in den sozialen Medien mit Verwunderung aufgenommen.
Schon vor Owsjannikowas Freilassung waren im Netz Postings mit Vermutungen oder Behauptungen aufgetaucht, der Protest sei eine reine Inszenierung des Putin-Regimes gewesen. Dafür werden mehrere angebliche Indizien angeführt: etwa, dass im russischen Fernsehen alle Sendungen mit einer Zeitverzögerung von mehreren Minuten ausgestrahlt würden, der Auftritt also leicht verhindert hätte werden können. Zudem sitze im Studio ein Wachmann, und die Moderatorin Jekaterina Andrejewa sei offenbar durch Owsjannikowas Protest überhaupt nicht irritiert und wohl vorab darüber informiert gewesen.
Diese Beobachtungen sind keineswegs so absurd, dass man sich damit nicht auseinandersetzen müsste. Es gibt dazu aber mindestens ebenso starke Gegenargumente: Die Zeitverzögerung für die Nachrichtensendungen sei erst jetzt, nach Owsjannikowas Protest, eingeführt worden. Für eine Mitarbeiterin des Senders sei es ein Leichtes gewesen, am Wachpersonal vorbei ins Studio zu kommen. Und Moderatorin Andrejewa sei ein Vollprofi, sie moderiere die Nachrichten seit über 20 Jahren und lasse sich durch nichts aus dem Konzept bringen.
Die milde Strafe und die schnelle Freilassung wirken irritierend in einem Staat, der Kritik sonst mit aller Härte bestraft. Allerdings könnte es durchaus sein, dass auf Owsjannikowa noch ein weiteres Verfahren und eine höhere Strafe für ihr Antikriegsplakat warten. Zudem wäre auch möglich, dass Owsjannikowa weltweit durch ihre sechs Sekunden vor der Kamera so bekannt wurde, dass Putins Regime nun vermeiden will, sie durch eine harte Strafe auch noch Märtyrerin zu machen.
Jene, die in Owsjannikowas Auftritt eine Inszenierung sehen, vermuten dahinter den langen Arm der Desinformationsspezialisten im russischen Geheimdienst FSB. Für diese These gäbe es zumindest eine historische Begründung: Der Vorgänger des FSB, der sowjetische Geheimdienst KGB, war ein Meister in «aktive Massnahmen» genannter Desinformation. Beispielsweise wurden zwecks Unterwanderung der Friedensbewegung in den 1980er-Jahren auch explizit antisowjetische Bewegungen und Publikationen finanziert.
Der Kreml sehe, dass er jetzt den Informationskrieg verliere, und bastle an einem neuen Narrativ, erklärt der Extremismusforscher Anton Schechowzow in einem Youtube-Video:
Nun werde erzählt, dass der Krieg Russland und die Ukraine gleich treffe und überall die einfachen Leute am meisten litten. Im Gespräch mit Tamedia fügt Schechowzow hinzu, dass er Owsjannikowas Aktion «nur als Manöver für internationale Medien sehe, «um vom enormen menschlichen Leid in der Ukraine abzulenken». Es gehe aber nicht nur um den Protest, sondern um einen prinzipiellen Vertrauensverlust gegenüber allem, was aus Russland komme, fügt der Extremismusforscher hinzu: «Ich glaube nichts mehr, was ich im russischen TV sehe.»
Die ukrainische Journalistin Walentina Aksenowa schreibt in der «Ukrainskaja Prawda» (nur auf Ukrainisch oder Russisch verfügbar) über eine «Operation Owsjannikowa», mit der Russland von der Bombardierung Mariupols ablenken wolle. Mehrere Userinnen und User aus der Ukraine posteten das Bild von Owsjannikowa im Fernsehen mit einem gelben Balken darüber und dem russischen Wort für «Inszenierung».
Freilich: Als Ablenkungsmanöver wäre der Protest nicht sehr erfolgreich gewesen. Die Bombardierung von Kiew, die Einkesselung von Mariupol stehen im Westen nach wie vor im Mittelpunkt der Berichterstattung. Das russische oppositionelle Internetmedium «Meduza» hat Owsjannikowas Biografie recherchiert und mit ehemaligen Kollegen und Freunden gesprochen. «Meduza» fand keinen Hinweis dafür, dass ihr Protest nicht ehrlich war oder inszeniert wurde.
Der in die Schweiz emigrierte ehemalige Mitarbeiter des russischen Fernsehens Dmitri Skorobutow berichtete der Tamedia schon vor über einem Jahr von Zensur und Druck auf Mitarbeiter im Sender. Jetzt erzählt er nach Telefongesprächen mit ehemaligen Kollegen, dass auch innerhalb des Ersten Kanals mehrere Verschwörungstheorien über Owsjannikowas Aktion kursierten: Sie könnte von einem westlichen Geheimdienst benutzt worden sein, um das Staatsfernsehen zu destabilisieren. Oder sie sei Teil einer internen Intrige gegen den Direktor des Senders, Konstantin Ernst. Dieser galt bisher stets als enger Vertrauter von Putin, die EU setzte ihn diese Woche auf ihre Sanktionsliste. Kaum jemand im Sender glaube, dass Owsjannikowa tatsächlich aus eigenem Antrieb gehandelt habe, sagt Skorobutow: «Sie war zwanzig Jahre lang Teil des Systems, hat alles mitgemacht. Und plötzlich wacht sie auf?» Owsjannikowa selbst spricht derzeit nicht mehr mit Medien.
Wie das System Putin mit dem Vorfall umgeht, zeigt auch die Reaktion der Sendungsmoderatorin Jekaterina Andrejewa: Sie schickte noch in der Nacht des Protests an ausgewählte russische Medien ein kurzes Selfie-Video, das sie in Yogakleidung zeigt. Was immer auch geschehe, versichert sie ihrem Publikum, «ich bleibe fest wie ein Fels». Ihre Standhaftigkeit komme durch Yoga und «vom Herzen». Den Auftritt ihrer Mitarbeiterin Owsjannikowa erwähnt die Moderatorin hingegen mit keinem Wort.
Die mutmasslich 60-jährige Andrejewa (zu ihrem Geburtsjahr gibt es verschiedene Angaben) ist ein Star im russischen Fernsehen. Sie moderiert die Nachrichtensendung «Wremja» bereits länger, als Putin im Kreml sitzt. Zu Hause, sagt Andrejewa in Interviews, habe sie aber nicht einmal ein TV-Gerät, weil «schlechte Nachrichten das seelische Gleichgewicht stören».
An ihrer Loyalität gegenüber Putin liess Andrejewa niemals Zweifel aufkommen. «Wir arbeiten für das staatliche Fernsehen, also unterstützen wir den Staat», sagte sie 2018 in einem Interview mit der britischen BBC. Kurz nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine postete sie auf ihrem Instagram-Account ein kurzes Video, das sie als Antwort auf «Nazismus und Faschismus» interpretiert. Darin sind Menschen verschiedener Hautfarbe zu sehen, die appellieren: «Stop hating Russians.»
Am Tag nach Owsjannikowas Auftritt mit dem Antikriegsplakat moderierte Andrejewa wieder wie üblich die Nachrichtensendung. Berichtet wurde über einen angeblichen ukrainischen Raketenangriff auf Donezk, über russische Bergarbeiter, die nun mit einer Haubitze die Heimat verteidigen, und über humanitäre Hilfe durch russische Soldaten. Über Marina Owsjannikowa verlor die Moderatorin kein Wort mehr.
Bernhard Odehnal, publiziert am 16.3.2022
Was ist mit dem 60 Kilometer langen russischen Konvoi passiert?
Zu Beginn der Invasion der Ukraine berichteten Medien fast täglich über einen Konvoi aus russischen Lastwagen, Panzerfahrzeugen und Artillerie, der sich von der weissrussischen Grenze in Richtung Süden auf Kiew zubewegte.
Dieser Vormarsch galt vielen Beobachtern als Anzeichen, dass ein gross angelegter Angriff auf die ukrainische Hauptstadt kurz bevorstehe. Doch die Fahrzeugkolonne blieb vor rund zwei Wochen 30 Kilometer nördlich von Kiew stehen und bewegte sich seither kaum mehr.
Was hat den Vormarsch gebremst? Und wo befinden sich die russischen Truppen jetzt?
Informationen dazu sind spärlich. Aus Twitter-Beiträgen und Medienberichten lässt sich jedoch ein bruchstückhaftes Bild zusammensetzen.
Am 27. Februar veröffentlicht die amerikanische Weltraumfirma Maxar erstmals Satellitenbilder, die den Konvoi auf ukrainischem Boden zeigen. Darauf sind Hunderte Fahrzeuge ungefähr 64 Kilometer nordwestlich von Kiew zu sehen.
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Die Lastwagen sollen die auf den Grossraum Kiew vorrückenden Angriffstruppen mit Benzin, Munition und Nahrungsmitteln versorgen, wie die «Washington Post» mit Bezug auf US-Beamte schreibt. Auch Kampfpanzer und Artillerie sind auf den Aufnahmen zu sehen.
Neue Bilder vom 1. März zeigen, dass sich der Konvoi über mehr als 60 Kilometer erstreckt, von Prybirsk im Norden bis zum Antonow-Flugplatz, rund 30 Kilometer von Kiew entfernt.
Die Nachrichtenagentur AP zeichnet die Ausdehnung des Konvois auf einer Karte nach:
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In den folgenden Tagen verhindern Wolken über dem Grossraum Kiew neue Satellitenbilder, wie die Firma Maxar gegenüber dem «Guardian» erklärt. Tatsächlich ist der Himmel über der Hauptstadt vom 1. bis 5. März grösstenteils bedeckt. Zudem fällt Regen, wie historische Wetterdaten zeigen. Laut dem britischen Verteidigungsministerium kommt der Konvoi wegen des «ukrainischen Widerstands, mechanischer Pannen und verstopfter Strassen» kaum voran.
Das nasse Wetter führt zu schlammigem Gelände, in dem die russischen Fahrzeuge immer wieder stecken bleiben. Das liegt auch an der schlechten Wartung, wie ein ehemaliger Mitarbeiter des US-Verteidigungsministeriums am Beispiel eines festgefahrenen Luftabwehr-Fahrzeugs ausführt.
Am 8. März liefern die Satelliten der Firma Maxar wieder Bilder des Konvois. Russische Fahrzeuge sind immer noch beim Antonow-Flughafen 30 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt zu sehen. «Wir beobachten, dass russische Truppen sich dem Stadtzentrum nicht weiter genähert haben», lässt das US-Verteidigungsministerium verlauten.
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Ein paar Tage später zeigen die Aufnahmen vom 11. März, dass sich die Fahrzeuge des Konvois im Gebiet rund um den Antonow-Flughafen verteilt haben. Wie viele es sind, bleibt unklar. Eine Schätzung über die Grösse des gesamten Konvois ging zuvor von 1400 Lastwagen und mehr als 150 gepanzerten Fahrzeugen aus. Wie plausibel die Schätzung ist, ist fraglich, da sie nicht von einem militärischen Experten stammt. Auf den Satellitenbildern, die meist nur Ausschnitte des ganzen Konvois zeigen, sind jeweils Dutzende bis wenige Hundert Fahrzeuge zu sehen.
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Und wie ist die Lage jetzt?
Der Militärbeobachter Franz-Stefan Gady vom britischen Thinktank International Institute for Strategic Studies hält in seiner Lageanalyse vom Dienstag fest, dass die russischen Truppen im Norden Kiews nicht weiter vorgerückt sind. Ukrainische Generäle erklärten am Montag gegenüber der BBC, dass ihre Truppen den Konvoi angegriffen und sein Vorrücken gestoppt hätten. Die Frontlinie verlaufe zurzeit entlang des Flusses Irpin, 20 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt.
Von russischer Seite heisst es dagegen, die sogenannte «Spezialoperation» verlaufe «nach Plan» und werde «vollständig» umgesetzt, wie Kremlsprecher Dmitri Peskow an einer Pressekonferenz am Dienstag sagte.
Gady erwartet, dass der Beschuss von Grossstädten zunehmen wird. Deren Einkesselung, zusammen mit Angriffen aus der Distanz, soll die ukrainische Seite zu Verhandlungen zwingen. Kiews Stadtzentrum wurde in den letzten Tagen mehrfach mit Raketen beschossen. Bürgermeister Witali Klitschko hat deshalb ab Dienstagabend eine Ausgangssperre verhängt.
Hannes von Wyl, publiziert am 15.3.2022
Das steckt hinter den Drohnenbildern von Mariupol
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«Dramatisch Aufnahmen zeigen die Zerstörung Mariupols». So betitelte eine britische Zeitung ein Video, das seit Montag, 14. März, auch über andere internationale Medien verbreitet wird. Zuerst tauchte es auf Twitter, später auch auf Youtube auf. Es zeigt über eine Minute lang aus der Luftperspektive Plattenbauten, die gerade beschossen werden, im Hintergrund sieht man eine Stadtlandschaft mit etlichen brennenden Häusern. Weder ein genauer Zeitpunkt der Aufnahme noch der genaue Ort werden in dem Video angegeben; es ist lediglich von der südukrainischen Stadt Mariupol die Rede, die seit Tagen von russischen Truppen belagert wird und angeblich sowohl von der Strom- als auch der Wasserversorgung abgeschnitten ist.
Als Quelle des Videos nennt die Nachrichtenagentur AP das «Asow-Bataillon». Asow war ursprünglich der Name eines rechtsextremen Freiwilligencorps, das sich in der Ukraine nach der russischen Okkupation der Krim gebildet hatte. In den vergangenen Jahren wurden das Asow-Bataillon immer mehr in die regulären Strukturen der ukrainischen Armee integriert und gehört heute zur Elite der Nationalgarde. Zu deren Ausrüstung gehören auch in der Türkei gebaute Kampfdrohnen des Typs Bayraktar. Obwohl diese Fluggeräte ziemlich langsam und ohne eigene Verteidigung sind, konnten sie offenbar von den Russen noch nicht vollständig ausgeschaltet werden, was auch westliche Militärexperten wundert. Ob die Aufnahme von einer solchen Bayraktar-Drohne gemacht wurde, ist aber nicht nachweisbar. Auf Youtube sind auch Videos von russischen Drohnen aus Mariupol aufgetaucht, allerdings wird dort meistens nur gezeigt, wie ukrainische Militäreinrichtungen aus der Luft angegriffen und zerstört werden.
Dass das aktuelle Video tatsächlich aus Mariupol stammt, kann anhand eines Vergleichs mit Google-Map klar verifiziert werden: Die Wohnblocks stehen (oder standen) im Westen der Stadt, in der «Strasse der Roten Flotte». Im weiteren Verlauf des Videos ist – welche Ironie – die «Allee des Friedens» (Prospekt Miru) mit mehreren grossen Supermärkten und Möbelhäusern zu sehen, die noch keine oder wenige Einschläge abbekamen.
Völlig zerstört hingegen ist neben den brennenden und zum Teil eingestürzten Wohnhäusern das grösste Einkaufszentrum der Stadt, das «Epicentr K». Auf dem Video ist nur mehr eine Ruine ohne Dach zu sehen. Das Einkaufszentrum soll laut Medienberichten am 2. März bei einem russischen Angriff getroffen worden und völlig ausgebrannt sein. Das Video aus Drohnenperspektive muss also in den vergangenen Tagen, auf alle Fälle nach dem 2. März, entstanden sein.
Entlang der Friedensallee sieht man weitere Häuser brennen und zum Ende des Videos einen Blick auf Rauchsäulen am Horizont – dort, wo sich das Stadtzentrum von Mariupol befindet. Etwa 200'000 Menschen sollen sich noch in der Stadt am Schwarzen Meer befinden, die seit Beginn des Monats von russischen Truppen eingekesselt ist. Laut Stadtverwaltung sind im Kessel bisher 2100 Zivilisten gestorben.
Bernhard Odehnal, publiziert am 15.3.2022
«Komplette Legion ausgelöscht» – Ausländischer Kämpfer schildert Raketenangriff
«Wir kamen aus allen Ecken der Welt. Aus Frankreich, aus ganz Europa, aus Südkorea, Chile, den USA und Kanada.» Tiago Rossi sitzt in einem Bus und spricht brasilianisches Portugiesisch. Seine Stimme ist ruhig, die Augen schauen jedoch besorgt in die Handykamera. «Nun ist es vorbei, alle Spezialkräfte sind gestorben. Die komplette Legion wurde mit nur einer Rakete ausgelöscht. Ihr könnt euch das gar nicht vorstellen. Gott sei Dank bin ich mit dem Leben davongekommen.»
Rossi ist nach eigenen Angaben einer der wenigen Überlebenden des Raketenangriffs vom Sonntag auf die ukrainische Militärbasis in Yaworiw bei Lemberg und befand sich zum Zeitpunkt der Videoaufnahme auf dem Rückzug nach Polen. Veröffentlicht hat Rossi das Video noch am selben Tag des Angriffs als sogenannte Story auf seinem Instagram-Account. Als solche verschwindet sie nach 24 Stunden automatisch von der Plattform. Auf Twitter kursieren jedoch weiterhin zahlreiche Kopien des Videos:
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Könnte es sich beim angeblichen Legionär auch um einen russischen Propagandisten handeln? Hinweise zur Identität des freiwilligen Kämpfers gibt ein Interview mit dem lokalen Radiosender CBN. Darin gibt ein 28-jähriger Tiago Rossi an, dass er über eine Militärausbildung verfüge und bis vor kurzem im südbrasilianischen Bundesstaat Parana als Schiessausbilder tätig gewesen sei. Rossi sprach über sein Vorhaben, sich am Krieg in der Ukraine zu beteiligen: «Es ist nicht einfach, meine Eltern so traurig zurückzulassen. Aber ich fühle mich bereit für die Mission. Ich werde zurückkehren.»
Opferzahlen unterscheiden sich stark
Die lokale Behörde in Lemberg bestätigte den Einschlag von rund 30 Raketen auf der Militärbasis Yaworiw und vermeldete 35 Tote sowie 134 Verletzte. Das russische Verteidigungsministerium hingegen spricht von 180 getöteten Fremdenlegionären und bezeichnete den Angriff als gezielten Schlag gegen ausländische Söldner. Unabhängig bestätigen lassen sich die Zahlen nicht.
Fest steht jedoch, dass Yaworiw bei Lemberg das bisher westlichste Angriffsziel der russischen Armee im Ukrainekrieg darstellt. Die Militärbasis liegt nur 25 Kilometer von der polnischen Nato-Grenze entfernt. Die Anlage diente gemäss der New York Times als Sammelpunkt und Ausbildungsstätte für ausländischen Soldaten, die dem Aufruf des ukrainischen Präsidenten Selenski vom 3. März folgten und an der Seite der Ukrainer gegen den Einmarsch der russischen Armee kämpfen wollten.
«Werde ein Held»
In einem Propagandavideo wirbt die Ukraine offiziell und mit ganz viel heroischem Pathos um ausländische Soldaten: Zu sehen sind blutüberströmte Leichen, ein Bunker mit Kindern und zahlreiche Raketeneinschläge. Daraufhin sagt eine Sprecherstimme: «Die jungen Unsterblichen wissen, dass sie niemals tot sein werden. Werde Teil der ukrainischen Legende. Werde ein Held.» Danach folgt eine 4-Punkte-Anleitung, wie sich Interessierte bei der ukrainischen Botschaft bewerben können. Bestehende Kampferfahrung ist dabei kein Kriterium.
Laut dem ukrainischen Aussenminister Dmytro Kuleba sollen sich seither rund 20’000 Männer aus 52 Ländern der «International Legion of Defense of Ukraine» angeschlossen haben. Einige von ihnen machen ihren Entschluss in den sozialen Medien publik, andere verschwinden aus ihrem alten Leben, ohne Angehörige zu informieren.
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Während es in Deutschland nur aktiven Bundeswehrsoldaten untersagt ist, unter fremder Flagge zu kämpfen, und die britische Aussenministerin Liz Truss sich sogar öffentlich für die ukrainische Fremdenlegion starkmachte, wird fremder Militärdienst in der Schweiz mit bis zu drei Jahren Freiheitsentzug geahndet.
Philippe Stalder, publiziert am 15.3.2022
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