Rätselraten um die iranische SittenpolizeiDas Mullah-Regime testet Zugeständnisse
Es ist nicht klar, ob die Führung in Teheran es wirklich ernst meint mit der Abschaffung der Kopftuchkontrolleure. Und ebenso wenig, ob sich die Protestierenden mit dieser Massnahme schon zufriedengeben werden.
Das Rätselraten um mögliche Zugeständnisse des Teheraner Regimes an die Bevölkerung geht weiter. Nachdem der Generalstaatsanwalt der Islamischen Republik am Wochenende bekannt gegeben hatte, dass die vor allem für die Durchsetzung des Kopftuchzwangs zuständige Sittenpolizei abgeschafft worden sei, berichteten regierungsnahe Medien zwar darüber. Doch eine offizielle Bekanntgabe durch die iranische Regierung gab es bis Montag noch immer nicht. Sie erscheint bei einem so weitreichenden Schritt allerdings als zwingend. Zumal der Generalstaatsanwalt als Teil der Justiz für die Sittenpolizei nicht offiziell zuständig ist. Diese untersteht dem Innenminister.
In weiten Teilen der internationalen Medien wurden die Aussagen von Generalstaatsanwalt Mohammad Jafar Montazeri dennoch für bare Münze genommen. Sie wurden als erster grösserer Erfolg der seit zweieinhalb Monaten anhaltenden, von jungen Frauen geführten Protestbewegung im Land gewertet. «Die Sittenpolizei ist geschlossen worden», hatte Generalstaatsanwalt Montazeri gesagt; die halboffizielle Agentur Isna verbreitete dies, ohne Details zu nennen. Die offiziellen Staatsmedien, die sonst als Sprachrohr des Regimes dienen, berichteten bisher nicht.
Gleichzeitig begann im Land ein von der Protestbewegung ausgerufener Generalstreik, dem sich in Teheran und anderen grösseren Städten laut Reuters zahlreiche Ladenbesitzer anschlossen. Von einem Abebben der Aufstandsbewegung kann also kaum die Rede sein. Das Regime muss irgendwie reagieren: Möglicherweise ist die Ankündigung des Generalstaatsanwalts ein Versuchsballon. Ein Test, ob politische Zugeständnisse wie die Abschaffung der Sittenpolizei zu einem Abflauen der landesweiten Proteste führen.
Machthaber erklären Unruhen mit wirtschaftlichen Ursachen
Dafür spricht, dass sich auch der Parlamentarier Nezamuddin Musawi öffentlich äusserte. Er sagte laut AP, Regierung und Parlament berücksichtigten «die vor allem wirtschaftlichen Forderungen des Volkes», um auf diese Weise «Stabilität und ein Ende der Unruhen» zu erreichen. Dass der Abgeordnete zuvor mit Präsident Ibrahim Raissi zusammengesessen war, legt nahe, dass die Regierung die Reaktionen auf mögliche Zugeständnisse austestet. Ebenso naheliegend erscheint es aus Sicht der Machthaber zu sein, die Unruhen mit wirtschaftlichen Ursachen zu erklären und die Forderungen nach umfassenden Frauenrechten und dem Ende der Islamischen Republik einfach totzuschweigen.
Die Frage ist, welche Reformen oder Zugeständnisse das seit mehr als vier Jahrzehnten herrschende Islamistenregime dem Volk machen kann, ohne sich ideologisch ad absurdum zu führen. Reicht das Aus für die Tugendpolizei überhaupt, um der landesweiten Protestbewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen? Oder wäre die nächste Forderung die nach dem endgültigen Ende des Verschleierungszwangs in der Islamischen Republik? Damit wäre eine der Säulen des theokratischen Systems weggebrochen und die Mullah-Republik endgültig einsturzgefährdet.
Auslöser der Proteste war die für Iraner alltäglich gewordene Belästigung durch die Sittenpolizei und damit der Kopftuchzwang. Die 22-jährige Mahsa Amini war am 13. September in Teheran abgeführt worden; angeblich sass ihr Kopftuch zu locker. Die aus der kurdischen Provinz zu einem Familienbesuch angereiste Amini war auf dem Polizeirevier zusammengebrochen und drei Tage später in einer Klinik gestorben. Ihre Familie nennt Schläge als Ursache einer am Ende tödlichen Hirnverletzung, die Behörden bestreiten dies.
Die früher allgegenwärtige Sittenpolizei ist verschwunden
Aminis Tod hatte viele Frauen auf die Strasse gebracht. Junge Frauen wurden durch das öffentliche Herunterreissen und Verbrennen ihrer Tücher zu Anführerinnen der Proteste. Die sozialen Medien verbreiteten vor allem zu Beginn die Bilder der Demonstrationen weltweit. Die Behörden des Iran reagierten mit Härte. Die Sittenpolizei – mit dem Tschador tief verschleierte Frauen und uniformierte Männer – ist seit dem Tod von Mahsa Amini allerdings weitgehend aus dem Strassenbild verschwunden.
Zumindest in Teheran gehen viele Frauen inzwischen ohne Kopftuch aus dem Haus. Manche ganz ohne, andere mit dem Tuch um die Schultern, um es im Notfall aufsetzen zu können. Die an Plätzen und Kreuzungen stehenden Polizisten oder Milizionäre reagierten im Normalfall gar nicht mehr.
Jugendliche werden immer gewalttätiger
Im Iran lebende Ausländer berichten aber auch von einer wachsenden Akzeptanz von Gewalt vor allem bei jungen Demonstranten. Während die ältere Generation das Scheitern mehrerer Protestbewegungen in den vergangenen Jahrzehnten miterlebt habe, seien jüngere Menschen oft furchtlos, aber häufig auch gewaltbereiter. Sie hätten sich neben der Gleichstellung der Frauen umfassendere Freiheiten und damit das Ende der Islamischen Republik auf die Fahne geschrieben.
Die Frage der Frauenrechte sei zwar der Auslöser, aber keineswegs der allein bestimmende Inhalt der Proteste, wie es im Ausland oft dargestellt werde. Während die Proteste etwa in Teheran auf Messenger-Plattformen wie Twitter und damit auch in den Darstellungen der im Ausland aktiven iranischen Exil-Opposition als anhaltend und sehr gross erschienen, seien es meistens eher kleine Gruppen von Demonstrierenden, denen die allgegenwärtigen Sicherheitskräfte sofort mit Härte entgegenträten, berichten die Kontakte in Teheran. Dies sage aber weniger über das Ausmass und die Verankerung der Proteste in der Gesellschaft aus als über die durch die Allgegenwart der Polizei erzwungene, bewusste dezentrale Organisation der Protestbewegung.
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