Meinung zum Berg-Tal-GrabenDas Klagen von den Bergen herunter
Sollen sich Bergler und Unterländer weiterhin aneinander reiben – so verhindern sie Exzesse.
Als die Urnen geschlossen und die Resultate bekannt waren, verschlechterte sich die Stimmung. Zwischen jenen oben in den Bergen, die wie bisher mit dem Wolf leben sollen, und jenen unten im Tal, die keine Angst vor ihm haben müssen, weil er ohnehin vor der Stadtgrenze überfahren würde. Zwischen jenen, denen der Wolf die Schafe reisst, und jenen, die nicht in die Wildnis eingreifen wollen. Zwischen jenen, die sich vom Unterland im Stich gelassen fühlen, und jenen, die das Jammern von den Bergen herunter nicht mehr hören mögen.
Ende September war er wieder aufgerissen, der Graben vom Genfersee bis nach Sargans, und trennte die Berge scharf vom Unterland. Die Schweiz hatte abgestimmt. Die Bergler wollten den Schutz des Wolfes lockern, die Unterländer nicht und obsiegten knapp. Das rief in den Bergen ungute Erinnerungen an jenen 11. März 2012 wach, als das Unterland gegen den Willen der Bergbevölkerung die Zweitwohnungsinitiative gutgeheissen hatte.
Der Unmut hatte sich nach der letzten Abstimmung kaum gelegt, da wurde bekannt, dass sie oben in den Bergen wollen, dass sie ausserhalb der Bauzonen leichter bauen können, auch Zweitwohnungen. Das ärgerte die unten im Tal, denn genau dies wollten sie vor ein paar Jahren mit ihrem Ja zur Zweitwohnungsinitiative und zum Raumplanungsgesetz verhindern.
Gräben an Abstimmungssonntagen
Im Alpenland Schweiz reissen an Abstimmungssonntagen regelmässig Gräben auf: meist zwischen Deutschsprachigen und Lateinern oder zwischen Stadt und Land; zu unterschiedlich sind die Mentalitäten, als dass sie sich einig wären. Zwischen Unterländern und Berglern ist das anders: Sie sprechen mehrheitlich dieselbe Sprache, und sie kennen sich – die Bergler besuchten im Unterland die Hochschulen, und die Unterländer verbringen in den Bergen ihre Ferien oder besitzen dort eine Zweitwohnung.
Und da beginnt das Problem: Viele Feriengäste wohnen zu Hause verdichtet. Wenn sie aus dem Fenster schauen, blicken sie immer öfter an eine Wand, wenn sie zur Arbeit fahren, merken sie häufig nur noch an den Ortstafeln, wo eine Gemeinde beginnt und wo sie endet. Je mehr im Unterland gebaut wird, desto wichtiger wird seinen Bewohnern die unberührte Natur. Sie wollen keine überbauten Berge – jedenfalls nicht mit den Ferienhäusern der andern.
Der Berg-Tal-Graben, der 2012 erstmals deutlich aufriss, wird sich weiter vertiefen. Soeben haben Umweltschützer zwei Volksinitiativen eingereicht: die Biodiversitätsinitiative und die Landschaftsinitiative. Letztere ist genau betrachtet eine Durchsetzungsinitiative des Raumplanungsgesetzes, das dem Bauen ausserhalb der Bauzonen klare Grenzen setzt. Und damit auch den Berglern.
Im Parlament sind die Bergler im Verbund mit konservativen oder bürgerlichen Kräften meist stärker.
Es ist aber nicht so, dass die Städter immer die Bergler überstimmen und sie aus der Ferne befehligen würden, ganz im Gegenteil. Im Parlament sind Letztere im Verbund mit konservativen oder bürgerlichen Kräften meist stärker, und sie obsiegen auch oft an der Urne, gerade am letzten Abstimmungssonntag: Sie sorgten dafür, dass die Kampfflugzeuge, welche die Städter nicht wollten, trotzdem gekauft werden – vor allem mit deren Geld. Letztlich ist die Schweiz aber nicht eine Ansammlung von Regionen, sondern ein Land. Die Bergler profitieren von den Milliarden, die jedes Jahr vom reichen Unterland zu ihnen hinauf verschoben werden, auch von den Hochschulen, Kulturhäusern oder vom Flughafen. Und die Unterländer von der einmaligen Natur, von den Bergbahnen und Skipisten oder von der umweltfreundlichen Wasserkraft.
Sollen sie ruhig weiter miteinander ringen, auch einmal ausrufen, wütend oder beleidigt sein. Sie sind einander das beste Korrektiv. Die oben in den Bergen sorgen dafür, dass sie in ihrer Heimat weiterhin ein Auskommen finden und diese nicht zur reinen Folklore verkommt. Und die unten im Flachland, dass die Berge nicht derart verbaut werden, dass Touristen lieber ins Nachbarland in die Ferien fahren.
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