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Meinung

Kolumne «Miniatur des Alltags»
Das heimliche Wettlesen

Eine kleine Geschichte aus dem Alltag.
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BotTalk

Sie sass schräg gegenüber vor mir. Auf ihrem Schoss protzte eine Ausgabe von Boris Pasternaks «Doktor Schiwago». 700 Seiten, mindestens. Unauffällig versuchte ich, ihren Lesefortschritt einzuschätzen. Sie war bereits ein gutes Stück weiter als am Tag zuvor, stellte ich beeindruckt fest. Als hätte sie meinen Blick gespürt, hob sie ihren Kopf. Unsere Augen trafen sich, und ich lief rot an. Ich dankte innerlich meiner Gesichtsmaske und fokussierte mich auf mein eigenes Buch.

Mehr zu lesen, das war mein Jahresvorsatz. Nur ist das einfacher gesagt als getan. Der Hauptgrund dafür sind bei mir Kopfhörer. Es ist so einfach und verlockend, nach ihnen zu greifen – und schon ist der Kopf zugedröhnt und der Vorsatz verdrängt.

Diesem Problem wirkte eine ältere Dame entgegen – ohne dass diese es wusste. Das erste Mal, dass
ich sie wahrnahm, war an einem grauen Montagmorgen. Mit ihrem Buch unter dem Arm setzte sie sich gegenüber von mir im Bus und begann zu lesen. Ich musterte sie in meinem schlaftrunkenen Zustand, dachte an meinen Vorsatz und an das Buch, welches seit Tagen nichts anderes als die Tiefen meines Rucksackes gesehen hatte. Ich gab mir einen Ruck. Wenn sie das konnte, konnte ich es auch. So ich riss mir die Kopfhörer aus den Ohren und begann, in meiner Tasche zu kramen.

Mittlerweile ist das Erste, was ich morgens im Bus mache, nach ihr Ausschau zu halten. Sobald ich
ihren vertieften Blick entdecke, suche ich mir einen Platz, der möglichst nah bei ihr ist, und lese um die Wette. Als ich gestern die letzte Seite meines Buches wendete und sie noch nicht mal bei der Hälfte war, huschte ein stolzes Lächeln über meine Lippen. Dass mein Buch nur knapp 200 Seiten umfasste, ist dabei Nebensache.