Juventus in der Champions LeagueDas grosse Rätseln um Andrea Pirlo
Ist ein grandioser Spielmacher automatisch ein guter Trainer? Juves stiller Coach Andrea Pirlo steht gegen Porto in der Champions League schon vor dem Urteil.
Bei Andrea Pirlo fragen sich die Italiener immer, was er wohl denkt. So gleichmütig schaut er in die Welt, mit einem Schuss vermeintlicher Gleichgültigkeit. Egal, was gerade passiert auf dem Platz: Der Trainer von Juventus Turin verzieht die Miene nicht. Es ist, als plätscherte alles geräuschlos an ihm vorbei, als gehe ihn das alles nur am Rande etwas an. Nie hüpft er herum, nie ruft er den Spielern Anweisungen zu. Nur selten beklagt er sich beim vierten Offiziellen, doch auch das wirkt eher widerwillig. Höchstens zieht Pirlo mal die rechte Hand aus der Manteltasche und hebt still den Arm. «Là!» Dorthin soll der Ball.
Die Exegese des pirlesken Denkens gilt deshalb unter den Chronisten und Kommentatoren des italienischen Fussballs als Wissenschaft, es ist eine eher ungefähre.
Pirlo ist jetzt 41, er sieht so aus wie am Tag, als er mit dem aktiven Fussball aufgehört hat, in New York. Ist ja auch noch nicht lange her. Vielleicht ist sein Bart etwas dichter geworden, das Haar etwas länger. Und natürlich trägt er nun Anzüge, sehr ausgewählte, sehr elegante, manchmal auch mit Gilet unter dem Sakko, ganz in der Tradition gut gekleideter «Mister», wie die Italiener die Trainer nennen, seit die Engländer den Fussball ins Land gebracht haben.
«Sie sind schlecht informiert»
Jede halbe Grimasse wird tiefenanalysiert, jede taktische Verlautbarung seziert. Neulich, nach dem Unentschieden Juves gegen Hellas Verona, gab es mal eine kleine Aufregung, ein Huch in der kultivierten Monotonie. Pirlo stellte sich den Interviewern aus dem Studio von Sky Italia. Einer fragte ihn, ob die Entscheidung, mit einer Dreier-Abwehr zu spielen, der Not geschuldet war, den vielen Verletzungen in der Abteilung. Oder ob er so das Schema Veronas habe spiegeln wollen. Pirlo gab sich zunächst gewohnt lakonisch, dann steigerte er sich aber in eine halbe Rage, sie kulminierte in diesem Satz: «Man sollte sich ein Spiel genau anschauen, bevor man redet – Sie sind schlecht informiert.»
Ein Vulkanausbruch für seine Verhältnisse, so selten, dass alle aufhorchten: ein Paradigmenwechsel? Immer kreist das Rätseln um die Frage, ob Andrea Pirlo aus Brescia in der Lombardei, einer der ganz grossen Interpreten dieses Sports in den letzten Dekaden, einer, der das Spiel aus dem Rückraum des Mittelfelds lesen und gestalten konnte, nach hinten und nach vorne, es schneller und langsamer machte je nach Bedarf, es situativ verlagerte und dafür Bälle verteilte mit dem Timing und dem Taktgefühl eines Dirigenten – ob dieser Andrea Pirlo also, der als Spieler alles gewonnen hat, die WM 2006 mit Italien, zweimal die Champions League mit der AC Milan, öfter noch die Serie A und dabei immer prägend war, auch ein grosser Trainer sein kann. Über Nacht, vom «Maestro» zum «Mister» eines grossen Vereins, einer Institution. Wie Zinédine Zidane bei Real Madrid. Normalerweise arbeiten sich frühere Spielerglorien als Trainer langsam hoch, mit Stationen in der Provinz.
Ein Vierteljahrhundert ohne Champions-League-Sieg
Die erste und dann auch schon richtungsweisende Antwort auf die Frage, ob Pirlo der Sprung aus dem Stand gelingt, wird nun das Rückspiel gegen den FC Porto bringen, Achtelfinal der Champions League. Das Hinspiel verlor Juve 1:2, und das mit viel Glück. Man spielte mal wieder sehr un-juventinisch, eine Kategorie unter dem eigenen Selbstverständnis. Fliegt man aus der Königsklasse, die man seit 25 Jahren nicht mehr gewonnen hat, ist die Saison wahrscheinlich vorbei. In der Meisterschaft liegt Juve weit hinter Tabellenführer Inter Mailand, der zehnte Titel in Folge wäre ein Wunder. Und ein Wunder zum Debüt wäre wohl zu viel.
Als die Turiner im vergangenen August, nach dem Ausscheiden bei den Final Eight in Lissabon, Maurizio Sarri entliessen und Pirlo als Nachfolger bestimmten, hatte der erst gerade die Trainerschule des Verbands in Coverciano absolviert gehabt. Auf den nötigen Ausweis für die Serie A, Master Uefa Pro, wartete er noch. Pirlo, hiess es damals, soll das schaffen, was man sich schon von Sarri erwartet hatte: Erfolg und tollen Fussball, Titel und Spektakel. Eine Revolution. Auch das ewige Siegen führt zu Langeweile.
«Gegner gehört technisch und mental demontiert»
Pirlos 30-seitige Abschlussarbeit trug den einigermassen autoreferentiellen Titel «Il mio calcio», Mein Fussball. Doch wenn einer so reden darf, dann er. «Giocare alla Pirlo», Spielen wie Pirlo, ist in Italien eine Redewendung geworden, eine Maxime auch. Da lohnt sich ein Blick in die Arbeit. «Die Idee meines Fussballs», schreibt Pirlo, «gründet in Ballbesitz und Angriff. Ich will einen totalen, kollektiven Fussball spielen, mit elf Spielern in der Offensive und in der Defensive.» Wenn der Ball mal verloren gehe, müsse er «mit wilder Entschlossenheit» sofort wieder zurückerobert werden. «Der Gegner gehört technisch und mental dominiert.» Seine Vorbilder? Johan Cruyff, Pep Guardiola, Louis van Gaal, Carlo Ancelotti, Antonio Conte.
Da kommen gleich mehrere fussballphilosophische Welten zusammen, Pirlo ist also ein Eklektiker. Am meisten geprägt hat ihn aber offenbar Conte, sein Rivale der Stunde, Trainer von Inter. Pirlo sagte einmal, Conte habe damals, von 2011 bis 2014 als Coach von Juve, in ihm erst die Lust geweckt, Trainer zu werden. «Er war der beste, den ich je hatte.» Mit seiner Motivationskraft habe er es geschafft, dass jeder Spieler immer alles gab.
«Ich will einen totalen, kollektiven Fussball spielen, mit elf Spielern in der Offensive und in der Defensive.»
Aber kann er das selber auch, hat er das Charisma dafür? Die Temperamente der zwei Männer könnten nicht unterschiedlicher sein. Conte hüpft und brüllt ständig herum, lässt keine Ballberührung unkommentiert, er beklagt sich immer und über alle: die Schiedsrichter, die Clubleitung, die Medien, auch mal über die eigenen Spieler.
Pirlos Juve fehlt der Biss, diese innere Spannung. Es erlebt zwischenzeitliche Hochs mit grossen Gegnern und dann wieder erstaunliche Tiefs mit kleinen. Oft rettet es sich nur dank der individuellen Klasse seiner Stars, von Cristiano Ronaldo, Alvaro Morata und dem jungen Neuzugang Federico Chiesa. Vor allem das Mittelfeld schwächelt, ausgerechnet Pirlos Zone also. Adrien Rabiot, Aaron Ramsey, Rodrigo Bentancur, Arthur, Weston McKennie: Da steckt viel Laufkraft drin, auch die Technik ist ganz ansprechend. Aber es fehlt eine prägende Figur, ein Dominator mit etwas Fantasie in der Schaltzentrale – ein Spielmacher, wie Pirlo einer war. Am besten schlägt sich noch der frühere Schalker McKennie, der sich oft in den Sturm schleicht und schon fünf Tore erzielte.
Meilenweit vom totalen, modernen Fussball entfernt
Totaler, moderner Fussball? Davon ist man weit entfernt. Juve ist eine Baustelle, der Generationenwechsel braucht seine Zeit, so man sie dem Trainer denn gibt.
Pirlo hat seine Ambitionen auch schon zurückgeschraubt, man nennt ihn nun einen «Allegriano», nach Massimiliano Allegri, einem Amtsvorgänger: Unter Allegri spielte Juventus einen abgeklärten, zuweilen aufreizend zynischen, aber unerhört erfolgreichen Fussball, der ganz auf die Abwehr baute und aufs schnelle Umschalten. Alte Schule. Selbst Pirlo sagt von sich, er sei «ein bisschen Allegriano» geworden. Plötzlich ist das Siegen nicht mehr langweilig.
Bevor er Conte begegnet war, hatte Pirlo eine dezidierte Meinung vom Beruf. «Ich würde keinen Cent auf meine Zukunft als Trainer setzen», schreibt er in seiner Autobiografie. «Das ist eine Arbeit, die mich nicht begeistert, da muss man viel zu viel denken, und der Lebensstil ist dem eines Spielers zu ähnlich. Davon habe ich dann mal genug, ich will mein Privatleben zurück, wenigstens ein bisschen.»
Das Buch trägt den hübschen Titel «Ich denke, also spiele ich», eine Abwandlung von «Ich denke, also bin ich», dem Grundsatz des französischen Philosophen René Descartes. Nur, was Pirlo so denkt, sieht man dem Spiel nicht an. Nicht wie früher, als er dachte und selber spielte.
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