Vom «Maestro» zum «Mister»Jetzt setzt auch Juve auf Nostalgie
Noch nie war er Trainer – und nun übernimmt er gleich seine alte Liebe. Andrea Pirlo wird neuer Trainer bei Juventus Turin. Seine grösste Aufgabe: Cristiano Ronaldo bei Laune zu halten.
Vom «Maestro» zum «Mister» ist der Weg nicht weit, wenigstens fonetisch, aber ist es ein Spaziergang? Andrea Pirlo, einer der samtfüssigsten und spielintelligentesten Spieler seiner Generation, ein «Maestro» eben, hat in seinem Leben noch nie ein Team gecoacht. Er war noch nie «Mister», wie die Italiener Trainer nennen, seit die Engländer den Fussball zu ihnen brachten. Keine Minute. Er hat überhaupt erst den kleinen Trainerschein erworben, für die Serie C, dritte Liga. Doch als ihn Juventus Turin vor einer Woche als neuen Übungsleiter seiner U-23-Mannschaft vorstellte, tat der Verein das mit verdächtig viel Pomp. Da war wohl schon viel mehr im Schwange, die ganz grosse Nummer, ein Wagnis aus Verzweiflung.
Andrea Pirlo ist nun also Trainer der ersten Mannschaft des Serienmeisters aus Turin, aus dem Stand, mit einem Sprung. Nach dem Aus gegen Olympique Lyon, im Achtelfinal der Champions League schon, ging alles sehr schnell. Musste wohl. Cristiano Ronaldo, mit seiner Strahlkraft so etwas wie der oberste Markenträger des Unternehmens, drohte gar nicht einmal so unverhohlen damit, den Club zu verlassen, weil der zu klein im Geist sei, zu schwach in den Ambitionen, einfach viel zu wenig für einen wie ihn. Der Businessplan wankte.
Und so entliess Juve am Samstag zunächst Maurizio Sarri, den ungeliebten und unverstandenen Trainer nach einer einzigen Saison, nervös vom ersten Tag an, und berief nur wenige Stunden später schon Pirlo: 41 Jahre, dichter Bart, melancholisches Lächeln, eine Eleganz aus einer anderen Zeit. Juve setzt auf das vielleicht völlig verwegene Versprechen, dass der Maestro die Schönheit seines eigenen Spiels reaktivieren und reproduzieren kann, fortsetzen und fernsteuern von der Seitenlinie.
Er war Regisseur, Paradeaufbauer und Zeitengeber
Pirlo hat 2017 mit dem aktiven Fussball abgeschlossen. Seinen Abtritt beging man in der Bronx in New York, im halb leeren Yankee Stadium, nach drei Jahren Pensioniertenfussball in der Major League Soccer beim New York City FC. Das war nicht standesgemäss für einen, der 116-mal für die italienische Nationalmannschaft gespielt hatte, den Helden von Berlin, Weltmeister 2006.
Gross geworden war Pirlo einst bei der AC Milan, seiner Herzensadresse, da machte man ihn zum Regisseur vor der Verteidigung, zum Paradeaufbauer, Zeitengeber. In Italien beherrschte die Tempi dieses Sports niemand so leicht wie Pirlo, kurz oder lang, schnell oder langsam, alles wirkte immer natürlich. Und er war nie aufgeregt, auch im ärgsten Sturm, scheinbar gefangen im übervölkerten Mittelfeld, verlor er dieses noble Phlegma nicht. Pirlo hatte immer «una faccia un po’ così», wie die Italiener sagen, wenn sie ein Gesicht ohne Regung meinen, ohne Gefühlsmanifestationen. Es konnte auch arrogant wirken, dabei drückte es vor allem Beherrschung aus.
2011, als Milan ohne ihn zu planen begann, holte ihn Juve zu sich. Pirlo war damals, mit 32, tatsächlich umsonst zu haben, ein Geniestreich. Viermal wurde er Meister mit den Turinern, der Treuebruch war schnell vergessen. Mehr noch: Er wuchs hinein in die juventinische Familie, freundete sich mit den Agnellis an, und auch als er in New York war, riss die Verbindung nie ab. Seine Wohnung im Zentrum von Turin, die Villa vor der Stadt, er behielt sie.
Der Trainerjob interessierte ihn zunächst nicht
Als er dann in die Heimat zurückgekehrt war, liess er sich von Sky Sport überreden, den Experten zu geben, wie das so viele andere Glorien von früher tun. Doch dieses öffentliche Reden liegt ihm nicht. Mögen seine Kameraden auch sagen, Pirlo sei im Privaten geistreich und lustig: Am Fernsehen hatte er immer eine «faccia un po’ così». Als man ihn einmal fragte, ob er denn nicht Trainer sein wolle, sagte er, nein, das interessiere ihn nicht. Dann aber schrieb er sich in Coverciano ein, der Ausbildungsstätte des italienischen Fussballverbands, und fand Gefallen. «Dass das doch etwas für mich sein könnte, merkte ich, als ich in der Nacht nicht einschlafen konnte und im Kopf Spieler auf dem Platz herumschob», sagte er neulich.
Nun erwarten ihn viele schlaflose Nächte. Spielen ist ja nicht dasselbe wie Spieler verwalten, motivieren, richtig einsetzen. Wird Pirlo da nicht verbrannt? «Möge der Fussballgott seiner Seele beistehen», schreibt eine Zeitung.
Wofür Pirlo steht, ist nun mal ein Rätsel. Wahrscheinlich weiss er es selbst
noch nicht so genau.
Bei Juve halten sie ihn für einen Prädestinierten, wie kann es auch anders sein. Als Modelle dienen Zinédine Zidane, Trainer von Real Madrid, mit dem man in den vergangenen Wochen einmal lose gesprochen hat, und natürlich Pep Guardiola, Coach von Manchester City. Auch bei ihnen spielt die Aura ihrer Aktivjahre eine entscheidende Rolle, in der Umkleidekabine wie bei der Anhängerschaft. Ronaldo & Co., so nimmt man auch in Turin an, lassen sich von einem wie Pirlo mehr sagen als von Sarri, dem früheren Bankangestellten. Die zwei grossen Vorbilder haben ihr Metier allerdings stufenweise erlernt, über Assistenzen und im Nachwuchs: Zidane bei Real Madrid Castilla, Guardiola bei Barça B.
Pirlo soll sofort gross sein und mit Juventus Turin nicht nur die zehnte Meisterschaft in Serie gewinnen, das ist das Mindeste, und wenn immer möglich sofort Europa erobern. Sondern er soll der Mannschaft dabei einen «europäischen Fussball» beibringen, etwas Modernes, Chorales, schön zum Anschauen. So, etwas schwammig mysteriös, lautet die Formel. Gemeint ist wohl: Dominanz über Ballbesitz, Aufbau mit dem Leder am Fuss, Spektakel in der Offensive. Wofür Pirlo steht, ist nun mal ein Rätsel. Wahrscheinlich weiss er es selbst noch nicht so genau.
Er muss einen Umbau vorantreiben
Die Mannschaft soll umgebaut werden, um CR7 und Paulo Dybala herum, die offensive Kreativzentrale. Viele werden wahrscheinlich gehen: Gonzalo Higuaín, Sami Khedira, Blaise Matuidi; Miralem Pjanic ist bereits weg. Der Brasilianer Arthur vom FC Barcelona ist schon verpflichtet, das erstaunliche schwedische Jungtalent Dejan Kulusevksi auch, als Mittelstürmer ist der Pole Arkadiusz Milik von Napoli im Gespräch, für den rechten Flügel Federico Chiesa von Fiorentina – und für die Regie vor der Abwehr Sandro Tonali von Absteiger Brescia, den man in Italien gerne mit Pirlo vergleicht. Auch wegen Äusserlichkeiten.
Hinten bleibt vieles gleich. Die «Senatoren» des Vereins, so hört man nun, Gianluigi Buffon, Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci also, sollen am stärksten auf Pirlo gedrängt haben. Alte, dicke Freundschaften. Passt das? «Und ich muss dich jetzt also ‹Mister› rufen!?!?!», twitterte Buffon am Wochenende. Alle vereint
in Nostalgie.
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