Festspiele trotz CoronaDas Experiment Salzburg
Die ganze Welt schaut auf diese Stadt: Während viele Sommerfestivals ausfallen, wagt Salzburg die Festspiele. Ohne Abstand für die Musiker, mit regelmässigen Tests – und Kontakttagebüchern.
Als am Samstagabend Franz Welser-Möst den Taktstock für Richard Strauss' «Elektra» hebt, herrscht Alarmstufe Rot bei den Salzburger Festspielen. Die mit den roten Bändern, das sind die, die keine Abstände einhalten müssen, die Gesangssolisten, aber auch die Kollektive, die Wiener Philharmoniker und der Wiener Staatsopernchor. Die erste gemeinsame Oper von Strauss und Hugo von Hofmannsthal, zwei Gründervätern der Festspiele, gehört zu denen mit den grössten Orchesterbesetzungen im klassischen Kanon, zum, wie es manchmal heisst, «grossen Repertoire» an der Schwelle von Romantik und Moderne. Mit 107 Musikern werden sich die Wiener Philharmoniker im Graben selbst der breiten Felsenreitschule drängen.
Während viele Sommerfestivals früh die Segel vor dem Coronavirus gestrichen haben, wollten die Salzburger Festspiele nicht aufgeben – nicht nur, weil es ausgerechnet das Jahr ihres 100. Jubiläums getroffen hat, sondern auch wegen der wirtschaftlichen Bedeutung für die ganze Region. 110 Veranstaltungen sollen in den kommenden vier Wochen stattfinden, ohne Pausen und Pausenbuffets, aber mit bis zu tausend Besuchern, die sich im Schachbrettmuster auf den Sitzen verteilen.
«Vorreiterrolle» der Wiener Philharmoniker
Die Wiener Philharmoniker, schon seit 1922 das Hausorchester, werden neben den zwei Opern auch vier jeweils mehrfach gespielte Konzertprogramme bestreiten. Österreichs prominentestes Orchester habe sich in der Corona-Krise von Beginn an in einer «Vorreiterrolle» gesehen, sagt Orchestervorstand Daniel Froschauer. Früh hat man Experimente zum Aerosolausstoss bei Orchesterinstrumenten initiiert, schon Anfang Juni im Wiener Musikvereinssaal wieder die ersten Konzerte in kleineren Besetzungen gespielt. Mit Abständen aufzutreten kam für die Wiener dabei nie infrage. Schon wegen des berühmten Klangs, dessen besondere Wärme und Dichte auch mit der Geschlossenheit des Klangkörpers im Raum zu tun hat. Stattdessen hat man sich vom Fussball inspirieren und die Musiker testen lassen.
In Salzburg werden alle aus der roten Gruppe einmal wöchentlich getestet, während die «orange» und die «gelbe» Gruppe von Künstlern und Mitarbeitern nur zu Beginn getestet worden sind, dafür aber Abstand halten. Daniel Froschauer macht keinen Hehl daraus, dass er auch seinen persönlichen Draht zu Bundeskanzler Sebastian Kurz genutzt hat, um die Auftritte der Philharmoniker und damit auch die Festspiele zu ermöglichen. Schliesslich hat das kleine Österreich einen Weltruf als Musikland zu verteidigen. Was sich zum Beispiel auch daran zeigt, dass in diesem Jubiläumsjahr Arte und der ORF die Veranstaltungen der Festspiele engmaschiger als sonst in die ganze Welt übertragen.
In Konstanz wird das gesamte Orchester vor Probenbeginn und noch mal vor der Premiere getestet.
Ob auch Politiker die Bedeutung von Opernhäusern und Orchestern für die kulturelle Identität und Integrität ihres Landes verstehen, daran äussern dagegen viele Musiker nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand Zweifel. Die Kontrolle «gerade im Klassikbetrieb» sei «wahnsinnig hoch», sagt etwa Marcus Bosch, der Vorsitzende der deutschen Generalmusikdirektorenkonferenz, obwohl theoretisch ein ganzes Orchester samt seinem Publikum ohne Abstände fliegen oder Zug fahren könnte.
Deshalb will Bosch an diesem Samstag ein Zeichen setzen, dass das Spielen in grosser Formation eigentlich längst wieder möglich wäre. Bei der Südwestdeutschen Philharmonie Konstanz wird er eine Operngala «mit grossem Repertoire» dirigieren, für die er mit Michael Volle, Barbara Frittoli und Massimo Giordano prominente Sängerunterstützung ins Konstanzer Bodenseestadion geholt hat. Auch hier wurde das gesamte Orchester vor Beginn der Probenzeit und dann am Freitag erneut getestet.
Können Massentests mehr Normalität bringen?
Möglich macht es ein Sponsoring der Biotech-Firma Centogene, die damit durchaus auch das eigene Anliegen propagiert. CEO Arndt Rolfs tritt dafür ein, dass massenhafte Tests längst wieder ein grösseres Mass an Normalität ermöglichen würden.
Rolfs, der auch das Schnelltestzentrum am Frankfurter Flughafen betreibt, hat nun gemeinsam mit der Generalmusikdirektorenkonferenz 15 deutsche Orchester ausgewählt, denen die Tests bis Weihnachten wieder das Spielen in grossen Besetzungen ohne Abstände erlauben sollen.
Dass viele Orchester jetzt Kammermusik spielen, ist schön. Aber was heisst das für die Kammer-Ensembles?
Schliesslich haben die traditionellen Opern- und Symphonieorchester ihren Ursprung im 19. Jahrhundert und verfügen über die entsprechenden Mitgliederstärken. Dass sie in der Krise aufgrund der Abstandsregelungen die Kammermusik und das kleiner besetzbare Repertoire vor 1800 stärker für sich entdeckt haben, ist zwar schön. Aber es macht auch den Originalklangorchestern Konkurrenz, die diese Musik nicht nur in der Regel stilsicherer spielen, sondern sich damit auch als oft freie Ensembles ohne staatliche Trägerschaft auf dem Markt verkaufen müssen.
Ausserdem brächten die kleinen Besetzungen die Gefahr mit sich, so Marcus Bosch, dass die Orchester verkleinert werden könnten, wenn sich in Ländern und Städten die Kassen aufgrund der Krise leeren und die Politik der Kunst nicht zugeneigt ist. Dass Tests keine «letztendliche Sicherheit» geben können, weiss auch Bosch, schliesslich könnte sich theoretisch ein Musiker auch noch in der Nacht vor dem Konzert bei Familie oder Freunden anstecken.
300’000 Euro für das Sicherheitskonzept
Um diese Gefahr so gering wie möglich zu halten, sind die Wiener Philharmoniker angewiesen, private Kontakte während der Salzburger Festspiele auf das Nötigste zu beschränken. Jedes Orchestermitglied muss ein Kontakttagebuch führen, auf das bei Bedarf die Gesundheitsbehörden zugreifen dürfen.
Für die Musiker bedeutet das tiefe persönliche Einschränkungen, ein «normaler Sommer» werde es nicht werden, sagt Orchestervorstand Daniel Froschauer. Doch er spüre bei allen «eine grosse Sensibilität» für die Situation, so würden in Probenpausen sofort wieder die Masken aufgesetzt. Ausserdem wird bei jeder Probe wie Aufführung die Sitzordnung der Musiker fotografiert. Erwiese sich ein Musiker als infiziert, würden die Umsetzenden sofort getestet. «Salzburg darf kein zweites Ischgl werden», sagt Froschauer und formuliert damit eine durchaus verbreitete Sorge.
300'000 Euro geben die von einem medizinischen Expertenrat unterstützten Festspiele in diesem Jahr allein für ihr Sicherheitskonzept aus. Ein Meter Abstand von Körpermitte zu Körpermitte sei für die Besucher an allen Spielstätten gewährleistet, sagt Lukas Crepaz, Kaufmännischer Direktor der Festspiele und gleichzeitig massgeblich für das Sicherheits- und Präventionskonzept verantwortlich. Dass es dennoch einzelne Ansteckungen geben wird, hält er für statistisch wahrscheinlich. Es existierten intern verschiedene Szenarien für eine Verschärfung der Sicherheitsmassnahmen. In welchem Fall das zuständige Salzburger Gesundheitsamt die Festspiele abbrechen würde, darüber macht Crepaz keine Angaben.
Die Musiker wären zu vielem bereit, nur um die Unsicherheit über die nächste Spielzeit zu überwinden.
«Die ganze Welt schaut jetzt nach Salzburg», sagt Daniel Froschauer. Sollte es gut gehen, dann werden die Wiener Philharmoniker noch im August zum Grafenegg-Festival weiterreisen und von September an in ihrer Funktion als Hausorchester der Wiener Staatsoper ihre regulären Saisondienste versehen. Bislang jedenfalls scheint der neue Staatsoperndirektor Bogdan Roščić damit zu rechnen, dass er sein Programm wie geplant durchführen kann. Sollte es schiefgehen, dann könnte es den Musikbetrieb in ganz Europa erneut lähmen.
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