Der Libanon in AufruhrDas alte System sucht sich ein neues Gesicht
Die etablierten Netzwerke in Beirut klammern sich an die Macht. Ein neuer Regierungschef soll dabei helfen. Die aufgebrachte Bevölkerung fordert aber einen vollen Austausch der Machtelite.
Die Gerüchte, dass der libanesische Premier Hassan Diab seinen Rücktritt einreichen könnte, waren am Montag erst wenige Minuten im Umlauf, da fluteten auffällig gleichlautende Solidaritätsadressen das Internet. Der Slogan «Das Volk ist mit dir, Hassan» wurde im Libanon binnen kürzester Zeit zum meistgeteilten Satz auf Twitter. Sollte Diab in diesen Minuten online gewesen sein, dürfte ihn die Unterstützung wohl selbst überrascht haben – in den Tagen zuvor war das Bild ein anderes. Die Menschen forderten, dass seine Regierung endlich abtritt.
Laut Experten dürften die warmen Worte für den gescheiterten Premier auf eine orchestrierte Aktion der schiitischen Hizbollah zurückzuführen sein, die Diab stützte. Die Hizbollah, ein Zwitter aus Partei und Miliz, schlägt ihre Schlachten mittlerweile auch im digitalen Raum. Sie verfügt über ein Heer von automatisierten Konten in sozialen Medien, die ihre Nachrichten in die Welt hinaustragen.
Doch auch das Stimmungsbild aus der Retorte konnte Diabs Kabinett nicht retten. Keine sieben Monate nach Amtsantritt und sechs Tage nach der Explosionskatastrophe im Beiruter Hafen kündigte der 61-jährige Premier an, mitsamt allen verbliebenen Ministern zurückzutreten. Einige Ressortchefs hatten im Laufe des Tages selbst den Dienst quittiert. Seine letzte Rede, die wenig Selbstkritik beinhaltete, aber viele Anklagen gegen reformresistente Netzwerke, beendete Diab mit der Formel «Gott schütze den Libanon».
Premier Diab könnte längere Zeit im Amt bleiben
Hilfe von ganz oben wird das Land in den kommenden Wochen und Monaten gut gebrauchen können, denn mit dem Rücktritt löst sich keines der vielen Probleme. Diab, der von den gefährlichen Gütern im Hafen wusste, könnte so sogar länger faktisch im Amt bleiben, als wenn er schnelle Neuwahlen herbeigeführt hätte. Das war sein ursprünglicher Vorschlag. Der Premier und die Minister führen ihre Ressorts nun kommissarisch weiter, bis eine neue Regierung bestellt ist – und das kann im Libanon lange dauern.
Diab selbst wurde erst drei Monate nach dem Rücktritt seines Vorgängers Saad Hariri vereidigt. Präsident Michel Aoun zog 2016 gar erst nach zweieinhalb Jahren Vakanz in den Präsidentenpalast ein.
Dem 84-jährigen Aoun, um dessen Gesundheitszustand sich einige Gerüchte ranken, wird bei den Verhandlungen über ein neues Kabinett die Schlüsselrolle zukommen. Schon laut Verfassung ist er derjenige, der Kandidaten für das Amt des Premierministers mit der Bildung eines Kabinetts beauftragen kann. Gleichzeitig laufen bei Aoun die Fäden jenes Netzwerks zusammen, das bisher die Beiruter Machtelite trug.
Als ehemaliger General einer christlichen Miliz hat Aoun einen Pakt mit der schiitischen Hizbollah geschlossen – ein Bund der Minderheiten sozusagen, die gemeinsam stärker sind als die sunnitischen Muslime, die zahlenmässig die grösste der 17 anerkannten libanesischen Konfessionen ausmachen. Seit dem Nationalen Pakt von 1943 stellten diese zwar immer den Ministerpräsidenten – zuletzt in Diab aber einen, der ausgesprochen Hizbollah-freundlich war.
Diabs Vorgänger Saad Hariri, dessen Vater Rafik 2005 mutmasslich von Hizbollah-Mitgliedern ermordet wurde, hatte schon allein aus diesem Grund ein mindestens ambivalentes Verhältnis zu dem Machtblock um Aoun und Hizbollah-Führer Hassan Nasrallah. Und obwohl ihm in der Vergangenheit nach einem Aus in der Regierung mehrfach Comebacks in der Rolle des Premiers glückten, dürfte er mit seiner Zukunftspartei beim nun einsetzenden Machtpoker von Beirut aussen vor bleiben.
Dass die Iran-nahe Hizbollah ihre dominierende Position im Staat freiwillig zur Verfügung stellt, ist kaum vorstellbar.
Hizbollah-nahe Medien vermeldeten am Dienstag, Aouns Schwiegersohn und Ex-Aussenminister Gebran Bassil habe sich mit dem seit 28 Jahren amtierenden Parlamentspräsidenten Nabih Berri und einem Vertrauten Nasrallahs getroffen. Das Ergebnis des Gesprächs im Hinterzimmer: ein doppeltes Nein – keine vorgezogenen Neuwahlen, kein unabhängiges Kabinett aus Technokraten. Priorität sei eine Regierung der nationalen Einheit.
Mit formellen Verhandlungen über eine solche Regierung wolle Präsident Aoun erst Anfang kommender Woche beginnen, hiess es in libanesischen Medien, auch ein Name für das Amt des Premiers kursiert bereits. Demnach ist der 66-jährige Jurist Nawaf Salam ein Kandidat. Als langjähriger Botschafter des Libanon bei den Vereinten Nationen und amtierender Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag ist er ohne Zweifel eine der qualifiziertesten und erfahrensten Kräfte, die für diesen Job infrage kommen. Trotzdem könnte er von Beginn an zum Scheitern verurteilt sein – weil die Demonstranten in Beiruts Innenstadt mehr wollen als nur ein paar neue Gesichter auf dem nächsten Kabinettsfoto.
Demonstranten fordern neues politisches System
Sie fordern nicht weniger als einen vollkommenen Austausch der Machtelite, zum Teil auch eine Überwindung des auf Proporzregelungen basierenden Systems, das ursprünglich nach dem Bürgerkrieg den verschiedenen Glaubensgruppen eine Teilhabe an der Macht sichern sollte. Dass die Iran-nahe Hizbollah ihre dominierende Position im Staat aber freiwillig zur Verfügung stellt, ist kaum vorstellbar. Dass der Filz aus Geschäftsmännern, Banken und Politik, der die wirtschaftlichen Sektoren des Landes unter sich aufgeteilt hat, sich entwirren lässt, ist ohne einen grundlegenden Neuaufbau des Staatsgebildes nicht möglich.
Als der französische Präsident zwei Tage nach der Explosion das Land besuchte, kündigte er einen «neuen politischen Pakt für den Libanon» an. Dies würde eine neue Verfassung und ein neues politisches System bedeuten: Emmanuel Macron sprach davon mit lauter Stimme und viel Nachdruck. Dass sich aber nicht immer der durchsetzt, der am lautesten tönt, weiss seit dem Rücktritt Diabs sogar die Social-Media-Abteilung der Hizbollah.
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