Sicher auf dem E-BikeJetzt kommt das ABS fürs Velo: So sollen Stürze verhindert werden
Antiblockiersysteme, bekannt vom Auto, sollen nun auch E-Bikes sicherer machen. Kann das klappen? Unser Autor hat es ausprobiert – und gestaunt.
Elektrisch unterstützt, geht es mit dem Velo flott durch den Stadtverkehr. Unvermittelt springt ein Kind vom Trottoir auf den Radweg. Panikbremsung! Das Vorderrad blockiert, der Unfall ist unvermeidbar. In hohem Bogen fliegt der Fahrer über den Lenker. Anderes Szenario, selbes Problem: Nach einer gemütlichen Einkehr in der Berghütte geht es frisch gestärkt den Forstweg ins Tal hinunter. Das schwere E-Bike schiebt gehörig an, die hydraulischen Scheibenbremsen halten ebenso gehörig dagegen. Einmal zu stark am Bremshebel gezogen, und schon rutscht das Vorderrad auf dem groben Schotter weg. Auch hier wird es wohl zum Sturz kommen.
Pedelecs, also Velos, bei denen ein Elektromotor beim Treten hilft, sind gefragt. Doch mit den elektrisch unterstützten Rädern sind viele Fahrerinnen und Fahrer auch schneller unterwegs. Zudem sind ihre Gefährte in der Regel mit hydraulischen Scheibenbremsen ausgestattet, die eine ungleich bessere Bremswirkung entfalten als Felgenbremsen. Für unerfahrene Pedelec-Fahrer kann diese Mischung wie geschildert böse enden. Deshalb reagieren die Hersteller und deren Zulieferer mit technischen Innovationen: ABS, also Antiblockiersysteme, sollen das elektrisch unterstützte Velofahren sicherer machen.
Derzeit bieten zwei Firmen Antiblockiersysteme für E-Bikes an: Bosch aus Deutschland und Blubrake aus Italien. Von Blubrake war wegen Lieferproblemen kein Testrad zu bekommen. Deshalb wurden für diese Redaktion zwei Bikes aus dem Hause Bosch getestet: ein vollgefedertes E-Mountainbike und ein ebenfalls gefedertes Long-John-Lastenfahrrad, also ein langes, einspuriges Cargobike, dessen Kiste vor dem Lenker montiert ist. Beide Velos sind ausgestattet mit dem ABS-System der zweiten Generation, das seit 2022 erhältlich ist.
Der Stresstest auf dem Schotter
Das Mountainbike (MTB) wurde zunächst dem Stresstest auf Schotter unterzogen. Es kostete anfangs einige Überwindung, bergab am Forstweg kräftig zu beschleunigen, nur um dann mit voller Kraft die Vorderbremse zu ziehen. Doch dann die Überraschung: Während man sich gedanklich schon auf einen unsanften Abflug über den Lenker vorbereitet, zeigt das ABS, was es kann. Das Vorderrad blockiert nicht – trotz vollem Durchziehen des Bremshebels! Das System wirkt beim E-Bike nur am Vorderrad, denn dort tritt die grösste Bremskraft auf. Ein blockierendes Hinterrad ist einfacher zu beherrschen, es verursacht nicht zwangsläufig einen Sturz.
Im Test löste der ABS-Algorithmus innerhalb von Sekundenbruchteilen immer wieder die Bremsbacken von der Scheibe und verhinderte damit den sogenannten Bremsschlupf, also das Ausbrechen des Vorderrades. Stattdessen grub sich das Reifenprofil förmlich in den Untergrund. Die Bremsleistung ist dadurch enorm, und das Wichtigste: Das Vorderrad ist nicht ein einziges Mal ausgebrochen.
Das Staunen bei befreundeten Testfahrerinnen und -fahrern, allesamt erfahrene Mountainbiker, war gross. Und zugleich wuchs der Ansporn, das ABS doch noch zu überlisten. Erfolglos, wie sich rasch zeigte: Egal, wie schnell beschleunigt wurde, egal, wie stark der Bremshebel gezogen wurde – das Vorderrad hielt die Spur, und das MTB kam schneller zum Stillstand als bei einer Bremsung ohne ABS. Auch die gefürchteten Überschläge sind ausgeschlossen. Es ist mit aktiviertem ABS praktisch unmöglich, das Hinterrad vom Boden abzuheben. Die Sensoren erkennen binnen Sekundenbruchteilen, ob sich diese Gefahr anbahnt, und lösen sofort und kaum spürbar die Vorderbremse.
Hinzu kommt: Das Bosch-ABS-System erlaubt auch sportliches Mountainbiken. Dazu gibt es einen eigenen Trail-Modus. Ist dieser aktiviert, kann man in engen Spitzkehren das Hinterrad durch Anheben versetzen, muss aber nicht auf die ABS-Vorteile beim Bremsen verzichten. Einziger Kritikpunkt: Aus unerfindlichen Gründen ist der Bremshebel sehr klobig und erfordert zwei Finger, um ihn kräftig zu ziehen. Ein besonders fein dosiertes Ein-Finger-Bremsen ist so nur schwer möglich.
Viele denken, sie bremsen besser als die Software
Der ehemalige Profi-Radsportler Daniel Klemme hat das Bosch-ABS für E-Bikes mitentwickelt. Seit 2012 wurde an dem Projekt gearbeitet, 2017 kam die erste Generation auf den Markt, die noch nicht ganz ausgereift war. Seit 2022 biete die neue, zweite Generation «für jeden Radtyp verschiedene Algorithmen», sagt Klemme.
Für Stadt- und Lastenräder sei der Algorithmus in erster Linie auf Sicherheit ausgelegt, bei Mountainbikes stehe das sportliche, aber dennoch sichere Fahren im Mittelpunkt. Gerade unter Mountainbikern gebe es Vorbehalte gegenüber der neuen Technik, sagt Klemme: «Das kratzt bei manchen am Ego.» Viele denken, sie würden besser und schneller bremsen als die Software.
Bewährte Technik im Einsatz
Bei Autos und Motorrädern sind Antiblockiersysteme längst Standard. Die grundlegende Technik war also bekannt. Und dennoch mussten die Entwickler die Technik fürs Fahrrad adaptieren. So spielt etwa beim Bremsverhalten des E-Bikes allein das Gewicht des Fahrers eine viel grössere Rolle als beim Auto. Zudem macht die Bauart des Fahrrads einen Unterschied: Ein vollgefedertes MTB verhält sich anders als ein Stadtrad mit Starrgabel. Oder gar ein Lastenrad, das unbeladen wenig Gewicht aufs Vorderrad bringt und bei dem das ABS dementsprechend feinfühliger ansprechen muss.
Aktuell gibt es ABS-Systeme nur fertig verbaut am Komplettrad zu kaufen. Nachrüstbare Systeme bieten weder Bosch noch Blubrake an. Bosch spricht von 15 Herstellern, die sein ABS in bislang etwa 50 Fahrradmodellen einsetzen, Blubrake nennt 8 Radhersteller, die das italienische ABS anbieten. Der Aufpreis, den Kunden für ein mit ABS ausgestattetes E-Bike bezahlen müssen, ist schwer zu beziffern. Denn das liege im Ermessen der jeweiligen Hersteller, heisst es bei den Zulieferern. Bosch spricht von 400 bis 500 Euro, Blubrake von 400 bis 700 Euro mehr. Die Deutschen kooperieren mit den Bremsenherstellern Magura aus Schwaben sowie mit Tektro aus Taiwan. Bei Blubrake ist im Sommer 2022 der japanische Shimano-Konzern als Partner eingestiegen.
Rechtsstreit um fairen Wettbewerb
Wie heiss umkämpft dieser Zukunftsmarkt ist, zeigt ein Rechtsstreit zwischen Bosch und Blubrake. Zwar wollten sich beide Firmen nicht zum laufenden Verfahren äussern, doch wie einer Pressemitteilung der italienischen Wettbewerbsbehörde zu entnehmen ist, wird derzeit geprüft, ob Bosch seine Marktposition als einer der grössten E-Bike-Motorenhersteller dazu nutze, Konkurrent Blubrake auszubremsen.
Denn Bosch-Antriebe seien offenbar absichtlich nicht mit dem ABS-System von Blubrake kompatibel, heisst es. Dazu muss man wissen: Damit ABS am Rad funktioniert, ist ein elektrischer Antrieb Voraussetzung, denn die Energie für das System kommt aus dem Akku des Pedelec.
Das sagen die Unfallverhüter
Rechtsstreit hin oder her, für die Schweizer Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) macht das System Sinn. Ihre Experten haben die Wirkung des ABS eingehend analysiert. Sie stellen in ihren Tests fest, dass es «insbesondere das Blockieren des Vorderrads und ein Abheben des Hinterrads deutlich reduziert». Dadurch verbessert sich einerseits die Stabilität, andererseits kann der Fahrer sein Gefährt besser beherrschen. Das verringert das Risiko eines Unfalls durch Kontrollverlust. «In jedem Fall empfehlen wir, das Bremsen mit dem E-Bike zu üben», sagt BFU-Sprecher Lucien Combaz. Zudem sei zu beachten, dass ein Anhänger bei einer starken Bremsung auch mit ABS ausbrechen und instabil werden kann.
Heute werden die Mehrkosten für ein ABS auf 800 bis 1000 Franken geschätzt. Deshalb wird es vor allem bei hochwertigen Modellen verbaut. Die ABS-Entwicklung werde sicherlich noch weiter perfektioniert, sagt der BFU-Sprecher. «Wir hoffen, dass dadurch diese Systeme für E-Bikes billiger werden.»
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