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Kaum erforschte Darmerkrankung
«Bis zu fünf Stunden am Tag verbringe ich auf der Toilette»

Patient Marc Beckers steht im Restaurant Tibits in St. Gallen vor einem Schild zu den Toiletten. Aufgenommen am 8. Januar 2025.
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In Kürze:
  • Eine bakterielle Dünndarmfehlbesiedlung schränkt Marc Beckers seit sechs Jahren massiv ein.
  • Der ehemalige Sportstudent verträgt nur noch fünfzehn verschiedene Lebensmittel.
  • Rund tausend Menschen in der Schweiz leiden unter schweren Symptomen.
  • Mit Spendenfahrten per Velo will Beckers mehr Aufmerksamkeit für die Krankheit schaffen.

Wenn Marc Beckers unterwegs ist, begleiten ihn stets auch die Sorgen: Was kommt heute wieder auf mich zu? Wie stark sind die Symptome? Gibt es irgendwo eine Toilette? Kann ich den Druck aushalten, bis ich wieder zu Hause bin?

Dass ihn die Verdauung einmal derart belasten würde, hat er sich noch vor wenigen Jahren nicht vorstellen können. Bis dahin verlief sein Leben weitgehend in geordneten Bahnen. Er war gesund, spielte Fussball und Tennis, ging regelmässig Skifahren. Und weil seine Leidenschaft für Sport schon von klein auf gross war, begann der Ostschweizer mit deutschen Wurzeln an der Sporthochschule in Köln Sportwissenschaften zu studieren.  

Es beginnt mit einem Atemwegsinfekt

Heute ist allerdings ungewiss, ob Marc Beckers, inzwischen 34-jährig, je in seinem Beruf Vollzeit arbeiten kann. Seit sechs Jahren machen ihm schwere Darmprobleme zu schaffen.

Angefangen hat alles mit einer Atemwegserkrankung: 2019 erwischt ihn eine virale Infektion, wie er sie so noch nie erlebt hat: Starke Entzündungen in Hals, Rachen und Lunge sowie völlige Erschöpfung waren die Folge. «Ich konnte kaum mehr tief atmen oder eine Treppe hochsteigen.» Wegen Verdacht auf eine Nebenhöhlenentzündung wird er zweimal mit Antibiotika behandelt, was jedoch zu keiner Besserung führte.

In den folgenden Wochen und Monaten fallen ihm erste Verdauungsbeschwerden auf: Nach dem Essen wird es ihm immer häufiger schlecht, und er bekommt schmerzhafte Blähungen. «Plötzlich vertrug ich zunehmend gewohnte Lebensmittel nicht mehr, und die Toilettenzeiten wurden länger», berichtet Marc Beckers. «Vor allem gesunde Sachen wie Gemüse, Getreide oder Hülsenfrüchte gingen gar nicht mehr.»

Er setzte alles daran, die Ursache seiner Beschwerden herauszufinden. Es folgte eine Ärzte-Odyssee in der Schweiz und in Deutschland. Alle Untersuchungen bei Spezialisten waren weitgehend ergebnislos. Inzwischen ist klar: Beckers leidet an einer besonders schweren Form einer bakteriellen Dünndarmfehlbesiedlung. Sie nennt sich kurz IMO (englisch: Intestinal Methanogen Overgrowth). Dabei ist der Dünndarm mit methanproduzierenden Mikroorganismen, sogenannten Archaeen, überwuchert – dies im Unterschied zur bekannteren Variante SIBO (Small Intestinal Bacterial Overgrowth), bei der wasserstoffbildende Bakterien vorherrschen. Beide Fehlbesiedlungen führen zu einer Überproduktion von Gas, die den Darm aufblähen und entzünden.

Die Erkrankung wird oft mit einem Reizdarmsyndrom verwechselt. Die Ursachen sind noch wenig bekannt. Diskutiert werden etwa Lebensmittelvergiftungen, Antibiotikatherapien, Pilz- oder Parasitenbefall, Operationen und Verwachsungen im Bauchraum, Magensäuremangel oder eine Bauchspeicheldrüsenschwäche. Meist liegt auch eine Einschränkung der Motilität (Bewegungsfähigkeit) des Darms vor, wodurch die Verdauung gestört ist.

Bei Marc Beckers kommt erschwerend hinzu, dass bei ihm offenbar sowohl Dünn- als auch Dickdarm von der bakteriellen Überwucherung betroffen sind. Der Überschuss an Methangas erklärt auch seine Blähbäuche oder – wie er selbst mit bitterem Humor sagt – «meine Schwangerschaftsbäuche». Dabei hätte der gross gewachsene Mann eine sportliche Figur.

Durchfall und Verstopfung wechseln sich ab

Starke Blähungen sind aber nicht das einzige Symptom, das Marc Beckers den Alltag erschwert. Auch Übelkeit und Schmerzen plagen ihn täglich. Dadurch sei er sehr infektanfällig geworden und entsprechend häufig krank, sagt er. Als besonders belastend empfindet er die langen und häufigen Toilettengänge. «An schlechten Tagen verbringe ich bis zu fünf Stunden auf dem WC.»

Durch die Erkrankung ist Beckers sehr oft auch müde und benommen, bekannt als «Gehirnnebel». Angstzustände und Nervosität sind weitere Folgen. Wegen all dieser Einschränkungen musste er das Studium zeitweilig unterbrechen und sich langen Behandlungen unterziehen.

Wie viele Menschen in der Schweiz an einer Dünndarmfehlbesiedlung mit Bakterien leiden, darüber gibt es nur grobe Schätzungen. Andrew Mac­pherson, Chefarzt am Bauchzentrum des Berner Inselspitals, geht davon aus, dass es rund 10’000 sind. Allerdings habe nur etwa jeder Zehnte von ihnen so starke Symptome, dass die Lebensqualität erheblich beeinträchtigt sei.

Macpherson forscht selbst zur bakteriellen Dünndarmfehlbesiedlung. Er erklärt, wie die Beschwerden nach heutigem Wissensstand entstehen: Während des nächtlichen Schlafs eliminiert der Dünndarm normalerweise den grössten Teil der Biomasse der Mikrobiota (Darmflora). Bei einer Fehlbesiedlung versagt dieser Mechanismus aber, und ein grosser Teil der Bakterien bleibt im Dünndarm. «Wenn Betroffene am Morgen dann mit der Nahrungsaufnahme beginnen, konkurrieren die im Dünndarm verbliebenen Bakterien mit den Verdauungsmechanismen und produzieren Gase und andere Chemikalien, die den Darm reizen.»

Sonst wisse man aber noch wenig über die rätselhaften Beschwerden, die von einer bakteriellen Fehlbesiedlung des Dünndarms ausgehen, so der Forscher. Das müsse sich ändern, denn Blähungen und Bauchschmerzen nach dem Essen seien sehr verbreitet. «Wir brauchen ein besseres Verständnis der Dünndarm-Mikrobiota und ihre Beziehung zu Krankheiten, aber auch die Diagnostik muss verbessert werden.»

Marc Beckers hat mittlerweile wohl oder übel mit seiner Krankheit zu leben gelernt. Heute ist er überzeugt, dass mehrfache Antibiotikatherapien seine Mikrobiota geschädigt haben. Deshalb setzt er auf komplementär- und alternativmedizinische Behandlungsansätze: nimmt pflanzliche Präparate, die antibakteriell wirken, und verschiedene Nahrungsergänzungsmittel – alles mit dem Ziel, seine Verdauungsleistung und Immunfunktion zu verbessern und die Mikrobiota wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Letztes Jahr unterzog er sich in Abstimmung mit einer Heilpraktikerin in Deutschland auch einer Stuhltransplantation. Diese habe bereits deutliche Fortschritte gebracht, auf die er aufbauen möchte, sagt Beckers.

Beckers verträgt nur noch 15 Lebensmittel

Trotz dieser Lichtblicke bleibt sein Leben eine Herausforderung. Es sind nicht nur die körperlichen Symptome, die belasten. Wer nur noch etwa 15 Lebensmittel verträgt und überall sein sorgfältig zusammengestelltes Essen mitnehmen muss, hat Mühe, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. «Mein Leben ist kompliziert und zeitraubend geworden, ich sehe mich ständig mit Hindernissen konfrontiert», sagt Beckers. Oft fehle das Verständnis, und der Leidensdruck werde nicht ernst genommen – selbst von Ärzten nicht. Eine Gastroenterologin habe ihm einmal leicht vorwurfsvoll gesagt: «Essen Sie doch einfach wieder einmal normal!»

Aber auch eine Partnerschaft einzugehen, sei unter diesen Umständen schwierig, erzählt er. Die Symptome und Erschwernisse der Krankheit seien nicht leicht mit einer Beziehung vereinbar; Blähbauch, ein kompliziertes Essverhalten und ewige WC-Sitzungen würden das Zusammenleben stark belasten.

Gerade solche Erfahrungen und das Wissen darum, dass viele Betroffene im Stillen leiden, haben Marc Beckers auf eine Idee gebracht: Um seine kaum bekannte Darmerkrankung besser ins Bewusstsein der Gesellschaft zu rücken, plant er ab diesem Sommer wiederkehrende Spendenfahrten mit dem Gravelbike vom Bodensee aus in verschiedene Länder. Velofahren sei eine der wenigen Sportarten, die er noch ausüben könne, erklärt er. Vor allem, wenn er Tempo und Pausen selbst bestimmen dürfe. Das auf diese Weise gesammelte Geld soll den Betroffenen und der Forschung am Inselspital Bern zugutekommen.

 «Denn», sagt Marc Beckers, «ich sehe die Hoffnung darin, dass der medizinische Fortschritt es einmal möglich macht, Leidenden wie mir eine Therapie anzubieten, die langfristig Heilung verschafft.»