Ärztin des russischen OppositionspolitikersDank ihr hat Nawalny den Hungerstreik abgebrochen
Anastasia Wassiljewa befürchtete, dass ihr prominenter Patient wegen schlechter Kaliumwerte und Probleme mit dem Herzen einen Infarkt erleiden könnte.
Anastasia Wassiljewa ist gross, weshalb sie immerhin auf Augenhöhe von draussen in das mickrige Fenster schauen kann, das sich vor ihr geöffnet hat. Die Ärztin steht im dunklen Mantel am Eingang der Strafkolonie Nr. 2 in Pokrow, lehnt sich gegen die gelbe Ziegelsteinfassade und bittet um Einlass zu Alexei Nawalny, ihrem Patienten. Aber die Staatsmacht in Person der Dame hinter dem kleinen Fenster weist sie ab. Machtkampf verloren. Immerhin hat sie den mit ihrem Patienten gewonnen. Auf ihr Drängen hat Nawalny den Hungerstreik nach drei Wochen abgebrochen. Schlechte Kaliumwerte, das Herz – die Ärztin befürchtete einen Infarkt.
Wassiljewa (37) stellt sich den Kraftproben mit den russischen Behörden mit Beharrlichkeit, oft dokumentiert sie das mit Filmsequenzen auf Twitter. Fast jeden Tag war sie zuletzt 100 Kilometer weit zum Gefängnis gefahren, um mit einem Kollegenteam endlich Nawalny untersuchen zu können. Stundenlang stand sie da, bat, wartete, kritisierte. «Wer muss man sein, um Ärzten den Zugang zu einem sterbenden Menschen zu verwehren», sagte Wassiljewa kürzlich. Einmal wurde sie sogar festgenommen.
Es ist nicht einfach, die persönliche Ärztin des prominentesten russischen Regierungskritikers zu sein. Die Vergiftung Nawalnys mit Nowitschok, der Diagnosestreit mit der Omsker Klinik, von deren Chefs sie sagte, «sie verkaufen uns wieder einmal für Idioten».
Dann Nawalnys Haft, ihr aufreibender Einsatz für den Oppositionspolitiker, dessen Vertraute sie geworden ist – all das wirkt tief in ihr eigenes Leben hinein. Ende Januar sass Anastasia Wassiljewa in ihrer Wohnung am Klavier und spielte Beethovens «Für Elise», als die Polizei an der Türschwelle erschien und sie festnahm. Sie spielte das Lied zu Ende und fragte die Beamtin und den Beamten: «Gibt es keinen Applaus?» Man könne sie umbringen, sagte sie dann noch, aber nicht einschüchtern.
Lange führte sie ein völlig unpolitisches Ärztinnenleben und hielt Wladimir Putin für einen ausgezeichneten Präsidenten.
Es ist dabei nicht etwa so, dass Anastasia Wassiljewa als Kritikerin des Systems aufgewachsen wäre. Sie wusste von Nawalny nicht einmal Genaueres, als sie ihn kennen lernte. Das war vor vier Jahren, als ihm jemand grüne Flüssigkeit ins Gesicht kippte, die Augenärztin ihm half und darauf bestand, dass er in Spanien operiert werde.
Anastasia Wassiljewa stammt aus einer Medizinerfamilie: Grossmutter Ärztin, Mutter Ärztin – Anastasia Ärztin? Nein, wollte sie nicht. Wurde sie aber doch, weil die Mutter darauf bestand. «Du wirst Ärztin, danach kannst du machen, was du willst», sagte sie. Die Tochter gab nach. Lange führte sie ein völlig unpolitisches Ärztinnenleben, kümmerte sich dazu um ihre zwei Kinder. In einem Interview erzählte Wassiljewa einmal, dass sie meistens staatliches Fernsehen geschaut habe, die Lage im Land als prächtig empfand und Wladimir Putin für einen ausgezeichneten Präsidenten hielt. Das änderte sich, als sie Nawalny kennen lernte. Und als auch ihre Mutter Probleme bei der Arbeit bekam.
Schutzmasken, Handschuhe und Beatmungsgerät besorgt
Mit viel Mühe schaffte es Anastasia Wassiljewa, ihre Entlassung an der Klinik zu verhindern. Seitdem setzte sich die junge Ärztin für Arbeitnehmerrechte ein, kämpfte für bessere Bezahlung und mehr Arbeitsschutz. 2018 gründete sie eine unabhängige Gewerkschaft, die Allianz der Ärzte. Das zahlte man ihr heim, denn die Gewerkschaft muss in Russland nun bei jeder Erwähnung in den Medien als «ausländischer Agent» bezeichnet werden, weil man ihre Arbeit als politisch empfindet.
In der Pandemie kritisierte Anastasia Wassiljewa den schlechten medizinischen Zustand in der Provinz, und als sie mit ihrem Team entschlossen anpackte und in Eigeninitiative Schutzmasken, Handschuhe und Beatmungsgerät besorgte, wurde sie festgenommen. Aufgehalten hat sie das freilich nicht.
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