Kolumne «Miniatur des Alltags»«Dafür lebe ich»
Wo sehen Sie noch einen Sinn in Ihrem Leben? Schwierige Frage. Erst recht, wenn man sie einer todkranken Frau stellt.
Seit jeher erlebe ich Begegnungen mit alten Menschen als ganz besondere Bereicherung. Besonders gut in Erinnerung ist mir jene mit Frau Boban. Zu verdanken hatte ich sie einem Freund, der in einem Pflegeheim am Zürichsee arbeitete. Eines Tages erzählte er mir, dass es im Heim mehrere Leute gebe, die niemand besuche. Und das, obschon diese betagten Heimbewohner Angehörige hätten, die teils in unmittelbarer Umgebung des Pflegeheims wohnten.
Die Schilderungen des Freundes waren bedrückend – und liessen mich nicht mehr los. Wenige Tage später entschloss ich mich, diese Menschen zu besuchen und ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Mit Zittern und Zagen ging ich schliesslich hin. Und war dann doch sehr erstaunt und erfreut, mit welch offenen Armen ich als Wildfremder von diesen Heimbewohnern empfangen wurde.
Manchmal las ich ihnen aus einem Buch vor, ein anderes Mal hielt ich nur schweigend ihre Hand. Oft entwickelten sich aber auch interessante, anregende Gespräche über Gott und die Welt. Besonders ins Herz geschlossen hatte ich mit der Zeit Frau Boban. Sie hatte Lungenkrebs im Endstadium.
Eines Tages nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte sie vielleicht etwas Ungehöriges: «Frau Boban, wo sehen Sie jetzt noch einen Sinn in Ihrem Leben?» Sie schaute mich lächelnd an und zeigte dann mit ihrem Arm in Richtung Fenster. Draussen erblickte ich einen wunderschönen Ahornbaum. «Jedes Mal, wenn der Wind in die Äste bläst, bewegt sich alles», sagte Frau Boban. «Und jedes Mal erzählen mir dann der Ahornbaum und der Wind eine neue Geschichte. Dafür lebe ich.»
Berührende Worte einer Frau, die für sich erkannt hat, dass das Lebensglück sehr oft in kleinen und unscheinbaren Dingen zu finden ist.
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